Brahms, Johannes

Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 68

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Oehms Classics OC 675
erschienen in: das Orchester 05/2011 , Seite 73

Vierzehn Jahre hat es gedauert, bis Brahms seine erste Sinfonie in die Form gebracht hatte, die ihn zufrieden stellte. Nach Beethoven eine Sinfonie schreiben zu wollen, lastete schwer auf ihm. Er sah sich unter dem Zwang, zu anderen Lösungen kommen zu müssen. Und doch konnte er sich nicht von der Tradition lösen. So wählt er in seiner c-Moll-Sinfonie die Viersätzigkeit, er legt dem Kopfsatz die Sonatenhauptsatzform und dem Finalsatz eine Mixtur aus Sonatensatz und Rondo zugrunde und er stellt dem Eingangssatz eine langsame Einleitung voran.
Das ist nichts, was von der Norm abweicht. Brahms’ Andersartigkeit vollzieht sich mehr im Detail, denn seine Themenfindung soll sich als Keimzelle für eine unendliche Vielfalt von Varianten eignen, und dies nicht allein im Hinblick auf Beginn und Ende eines in sich abgeschlossenen Satzes. Auch die nachfolgenden Sinfoniesätze leben aus der Substanz des einmal gewählten musikalischen Themas. Dieses Bewusstsein für das andauernde Spiel mit der motivischen Verarbeitung hat Brahms ja dann auch so interessant für die Zweite Wiener Schule gemacht.
Auch wenn Brahms’ musikalischer „Konstruktivismus“ in seiner c-Moll-Sinfonie letztlich doch eher im Schriftbild der Partitur als wirklich hörend nachzuvollziehen ist, auch wenn das Herkömmliche in der äußeren Wahrnehmung also noch überwiegt: So rückwärts gewandt, wie Simone Young mit den Philharmonikern Hamburg an Brahms’ 1. Sinfonie herangeht, wird der neue Geist, um den der Komponist so sehr gerungen hat, gleichsam von vornherein im Keim erstickt. Die Tempi wählt Young allesamt sehr bedächtig, und sie nimmt sich die Freiheit, noch weiter zu retardieren, wenn sie einzelne musikalische Erscheinungsformen in ihrem Charakter und ihrem Ausdruck besonders herausheben möchte. Der gestalterische Ansatz hat stets etwas Ostentatives: Selten hört man die Paukenschläge in der langsamen Einleitung des Kopfsatzes mit einer solch vehementen Unerbittlichkeit, selten wird einem die Kontrasthaftigkeit der musikalischen Textur so divergent vor Ohren geführt. Jedwede Sanglichkeit in den motivischen Wendungen wird voller Empfindungstiefe und mit weiter agogischer Flexibilität ausgekostet, die herrischen Momente dagegen mit insistierender Attitüde geschärft.
Dieses immerwährende Pendeln zwischen Verweilen und Drängen wirkt häufig überzeichnet, schafft aber immerhin – und das ist der Dirigentin und ihrem Orchester hoch anzurechnen – keine Unruhe im Entwicklungsverlauf. Ein weiter Ambitus der Ausdruckszeichnung bestimmt auch den Finalsatz. Hier rückt der in sattem Glanz erstrahlende, im Tempo stark zurückgenommene „Alphornruf“ erwartetermaßen ganz ins Zentrum der musikalischen Zielführung. Im Andante sostenuto beschwört Young mit der Schwere der gewählten Farben Klangwogen Bruckner’scher Fülle herauf und modelliert einen „Requiemsatz“ voller Melancholie. Zur dunklen Klangtönung will allerdings das helle Violinsolo nicht so recht passen.
Dem dritten Satz (Un poco allegretto e grazioso) fehlt es an der nötigen Konturierung des Ausdrucksprofils, dessen Gestus erscheint zu indifferent, die Diktion zu rundgeschliffen.
Thomas Bopp

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