Wilms, Johann Wilhelm

Sinfonie Nos. 6 & 7

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Deutsche Grammophon 474 508-2
erschienen in: das Orchester 03/2005 , Seite 82

Ein unbekannter Beethoven-Zeitgenosse und gleichsam „sinfonischer Kollege“ des großen Musikheroen – so stellt sich Johann Wilhelm Wilms (1772-1847) beim Hören der vorliegenden CD dar. Seit 1791 lebte er in Amsterdam und spielte fortan nicht nur im Musikleben der Stadt, sondern auch überregional eine wichtige Rolle: Er komponierte eine weit verbreitete Landeshymne und wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Anlässlich der Leipziger Erstaufführung seiner Symphonie op. 9 (1806) feierte ihn die Presse als „einen der geistreichsten, lebhaftesten und ausgebildetsten Künstler“ der Zeit. Doch bald verblasste die Erinnerung, und 1968 räumte Die Musik in Geschichte und Gegenwart ein, dass „eine gründliche Untersuchung von Wilms’ Leben und Werk“ noch ausstehe. Daran hat sich bis vor kurzem kaum etwas geändert. Erst die rund 170 Jahre verspätete Uraufführung seiner siebten und letzten Symphonie durch das Concerto Köln (2002) ließ die Musikwelt aufhorchen. Es ist zu hoffen, dass die vorliegende Einspielung den großen Unbekannten nun ins allgemeine Bewusstsein zurückholt.
Die beiden letzten Symphonien konfrontieren den Hörer mit einer eigenwilligen Mischung aus verschiedenen Stilelementen: Jedes Mal ein Eröffnungssatz mit langsamer Einleitung, die in der vor 1820 geschriebenen Sechsten mit fast barocken Spielfiguren aufwartet und (trotz posaunenbewehrter Klangfülle) in der um 1830 komponierten Siebten ihre Wurzeln bei Haydn nicht verbergen kann; dann Sinfonik von überwiegend packender Dramatik, die so verblüffend nahe an den Stil Beethovens herankommt, vereinzelt auch dessen Bläsersatz mit der unmissverständlichen Referenz an Musiken der Französischen Revolution anklingen lässt und in häufigen Trompetensignalen das berühmtere Vorbild sogar zu übertrumpfen sucht. Dem hitzigen Treiben setzte Wilms (besonders in der Siebten) eine gesangliche, mit romantischem Hornklang unterfütterte Seitenthematik entgegen, die bereits den Geist einer neuen Zeit atmet.
In den langsamen Sätzen tritt uns zunächst ein etwas „modernisierter“ Haydn entgegen, doch der verwandelt sich unversehens und die Musik steigert sich zu monumentalem Pathos. Für das Poco adagio der Siebten hat Wilms außerdem eine jener begnadeten Melodien gefunden, die unvergesslich bleiben: Wie er dem anfangs sich bescheiden gebenden Gebilde immer neue Aspekte abgewinnt und es sogar zum feierlichen Hymnus steigert – das gehört zweifellos zu den ganz großen Höreindrücken!
Trotz aller rhythmischer Prägnanz fällt für die Scherzi ein Vergleich mit Beethoven nicht ganz so günstig aus – zu sehr huldigen sie diesem Vorbild und können dessen komplexe Gestaltung doch nicht erreichen. Dafür nimmt Wilms im Finale die energische Dramatik des Kopfsatzes in eher gesteigerter Form wieder auf und fällt erst kurz vor Schluss in die Dur-Variante, in der das Werk auch endet. Es entsteht jedoch nicht jene quasi-religöse Wirkung eines „per aspera ad astra“ wie in Beethovens Fünfter – dafür ist dieser gleichwohl wirkungsvolle Abschnitt einfach zu knapp.
Der luziden Interpretation von Concerto Köln, das unter seinem Leiter Werner Ehrhardt erwartungsgemäß markant-zupackend musiziert, kann man sich (zumal bei dieser transparenten Einspielung mit äußerst präsentem Klangbild) kaum entziehen; ihnen gebührt neidloses Lob für ihren Fund, der bereits weitere Folgen gezeitigt hat: Nicht nur eine Wilms-Gesellschaft ist entstanden; mit der großformatigen Partitur der 7. Symphonie in der Reihe „Denkmäler rheinischer Musik“ liegt außerdem das wahrscheinlich ambitionierteste Werk des Komponisten jetzt in einer wissenschaftlich betreuten Edition vor; das Orchestermaterial kann beim Verlag entliehen werden. Die Sechste soll in gleicher Art und in absehbarer Zeit erscheinen.
(Johann Wilhelm Wilms: Symphonie Nr. 7 c-Moll, Partitur, Dohr, Köln 2003, 79,80 €)
Georg Günther