Mahler, Gustav
Sinfonie No. 4
Was da in Bamberg heranwächst, fesselt und erschüttert zugleich. Das ist der Eindruck, den die Einspielung der 4. Sinfonie von Gustav Mahler durch die Bamberger Symphoniker unter ihrem Chefdirigenten Jonathan Nott hinterlässt. Mit ihr wird der Mahler-Zyklus fortgesetzt, den der zur Bayerischen Staatsphilharmonie ernannte Klangkörper 2004 mit der Fünften einläutete und von dem in diesem Jahr bereits die Erste erschien (alle bei Tudor). Notts Erfolgsrezept: Er verlebendigt Mahlers unerhörte Klangvisionen und launische Stimmungswechsel und dringt dadurch tief ein in die Aussage von Mahlers Musikkosmos so auch in der 1901 uraufgeführten Vierten.
In ihr ist nichts so, wie es ist. Bestenfalls wie es zu sein scheint. Das verraten schon die ersten Takte, Flöten-Achtel und Schellengeläut eröffnen das Werk. Wirklich ist es eine Narrenschelle, die, ohne es zu sagen, sagt: Was ihr nun vernehmt, ist alles nicht wahr. Dies schreibt Theodor W. Adorno 1960 in seiner Mahler-Schrift, und tatsächlich hat die Narrenschelle auch ihre kompositorische Konsequenz. So suggeriert der Kopfsatz einen klassischen Sonatensatz, wären da nicht die ungewöhnlich häufigen Tempo- und Ausdruckswechsel sowie die neuartige Instrumentation.
Und da ist der Schellenklang selbst, der im letzten Satz zyklisch wieder durch die Takte geistert: Ihn könnte man als Refrain eines Rondosatzes auffassen, auch das Variationsprinzip schimmert durch. Diese Sinfonie ist also alles andere als klassisch, vielmehr schlägt sie Gewohnheiten auf subtile Weise frech ein Schnippchen. Sie ist gleichsam Mahlers einfachste und rätselhafteste Sinfonie.
Mit viel Biss und frechem Augenzwinkern geht Nott an die Partitur heran und kitzelt authentische Gefühlswelten aus dem Orchester, ohne jedoch den Durchblick zu verlieren. Form und Gehalt sind in dieser intensiven Deutung stets durchhörbar, kein Effekt bleibt Selbstzweck. So steigert sich das Orchester im dritten Satz in glasklar gestalteten Steigerungswellen in den schlussendlichen Durchbruch, im Scherzo grinst floskelhafte Groteske. Mit der in Hamburg geborenen Sopranistin Mojca Erdmann, die bereits bei den Festspielen in Salzburg und Luzern debütierte, wurde für das Himmlische Leben des letzten Satzes eine vortrefflich passende Stimme ausgesucht. Fordert Mahler in der Partitur einen kindlichen Ausdruck (ursprünglich wollte er eine Knabenstimme vorschreiben), so wird Erdmann dem durchweg gerecht.
Die von ihr ausgestaltete Naivität berührt zutiefst. Hier scheinen tatsächlich die Augen desjenigen Kindes zu funkeln, das zuvor im “Irdischen Leben” aus Des Knaben Wunderhorn in den Armen der Mutter verhungert war; Mahler selbst betrachtete das !Himmlische Leben” aus der 4. Sinfonie als Fortsetzung dieses Lieds. Man darf also gespannt sein, wie der Bamberger Mahler-Zyklus weitergeht. Im Frühjahr 2009 wird die 2. Sinfonie, im Sommer 2009 die 9. Sinfonie bei Tudor erscheinen.
Marco Frei