Bruckner, Anton
Sinfonie IX d-Moll
with Finale (Version by Samale et al.)
Irgendwie sympathisch und schrullig zugleich , dass man sich im Zeitalter des Web 2.0 noch die Köpfe darüber heiß reden kann, ob eine unvollendete Komposition des 19. Jahrhunderts zu Ende gebracht werden darf. Solche Diskussionen sind freilich kein sinnloser Anachronismus, sondern legitime Versuche, Konzertsaal-Traditionen aufzubrechen. Es ist zum Beispiel nur schwer erklärbar, warum Mozarts Requiem ganz selbstverständlich mit fremdem Schluss aufgeführt wird, während die Rekonstruktion von Bruckners neunter Sinfonie oft als Entweihung eines Heiligtums gilt.
Im Konzert sind von diesem prophetischen Opus ultimum fast immer nur die ersten drei Sätze zu hören, obwohl Bruckner, der über dem vierten Satz gestorben ist, als Ersatz-Schluss ausdrücklich sein Te Deum vorgesehen hat. Aber auch der richtige Finalsatz ist weit mehr als nur ein Fragment, ja er ist zu guten Teilen sogar fertig gestellt worden bloß gingen leider einige Skizzen verloren.
Während Nikolaus Harnoncourt die Lücken transparent gemacht und bewusst nicht ergänzt hat, lieferte der Exzentriker Peter Jan Marthé vor zwei Jahren eine zwar unterhaltsame, aber doch sehr willkürliche und undurchschaubare Vollendung. Den Mittelweg (Rekonstruktion nach streng wissenschaftlichen Kriterien) wählt das Vierergespann Samale-Phillips-Cohrs-Mazzuca, das sich schon seit den 1980er Jahren auf akribischste Weise mit dem Misterioso-Schluss befasst und bereits mehrere Fassungen vorgelegt hat.
Die Version von 2006 liegt nun auf CD vor, passenderweise mit dem von Marcus Bosch geleiteten Sinfonieorchester Aachen, das bereits mehrere Bruckner-Sinfonien aufgenommen und diese Produktionen durch ständig wachsende Qualität gerechtfertigt hat. Das Booklet bietet zwar keine so ausführlichen Informationen wie die Aufnahme einer früheren Fassung von Samale, Phillips, Mazucca und Cohrs mit der Neuen Philharmonie Westfalen. Doch deutlich wird das Bemühen, die Faktur der Rekonstruktion offenzulegen. Wenn sich die Gralshüter der dreisätzigen Version überhaupt erweichen lassen, dann nur auf diese Weise.
Der Livemitschnitt des Sinfonieorchesters Aachen zeichnet sich durch einen runden, geschlossenen Gesamtklang (Super-Audio-CD) mit präsenten Blechbläsern aus, wobei Berichten zufolge die Akustik in der Aachener St.-Nikolaus-Kirche schwierig und hallig war. Die Tontechniker von Coviello Classics haben ganze Arbeit geleistet.
Auch sie konnten aber nicht verhindern, dass dieser Interpretation bisweilen Explosivität und Schärfen fehlen. Das wird deutlich im zweiten Satz, der mit seinen stampfenden Blechattacken apokalyptische Züge trägt. Während bei Harnoncourt Hammerschläge über den Hörer hereinbrechen, schickt Marcus Bosch eine Straßenwalze. Die frappierenden Sekundfanfaren der Trompeten im letzten Satz gehen fast unter. Dafür sind lyrische Passagen fein und sensibel herausgearbeitet, Bosch widmet Details viel Aufmerksamkeit. Zu welcher Leistung sein Orchester unter Livebedingungen fähig ist, das beeindruckt aufs Neue, überrascht aber nicht. Die Bruckner-Aufnahmen der Aachener sind längst mehr als ein Geheimtipp.
Johannes Killyen