Bruckner, Anton
Sinfonie IV Es-Dur “Romantische”
Original version from 1874
Die Werkgeschichte der vierten Sinfonie von Anton Bruckner ist zugleich die Geschichte eines vorauseilenden Gehorsams gegenüber dem Publikum und seinen vermuteten Vorlieben. Wie so oft zauderte der von Komplexen erfüllte Meister und ließ auch bei der Vierten, der Romantischen, Bearbeitung auf Bearbeitung folgen. Wie die Erstfassung von 1874 bei den Zeitgenossen angekommen wäre, ist pure Vermutung: Erst die dritte Version kam zu seinen Lebzeiten tatsächlich zur Uraufführung. Sie wurde ganz anders als die dritte Sinfonie ein großer Erfolg.
Die Urfassung der Vierten hat erst in den letzten Jahren CD-Karriere gemacht, sodass sich Marcus Bosch mit dem Sinfonieorchester Aachen in seiner Neueinspielung einer überschaubaren Konkurrenz stellt: Statt der mit über 250 Aufnahmen im Konzertsaal fast ausschließlich zu hörenden letzten Fassung sind es bei der Version von 1874 lediglich vier. Die freilich sind nicht zu verachten und werden verantwortet von Dennis Russell Davies und Eliahu Inbal im Jahr 2004 sowie Roger Norrington und Simone Young im vergangenen Jahr.
Doch kommen wir zum Werk selbst, in dem sich Freunde der herkömmlichen Version erst einmal zurechtfinden müssen: Das späte Finale ist in der Frühfassung nur in Rudimenten zu erkennen, und statt des berühmten Scherzos mit den Hornfanfaren wartet ein ziemlich spröder dritter Satz, der von großen Löchern durchzogen und mit seinen beständigen Wiederholungen einigermaßen redundant ist.
Der erste und zweite Satz unterscheiden sich im Vergleich der Fassungen nicht grundsätzlich, und doch ist der Klangeindruck sehr verschieden. Die rhythmische Vielfalt und polyfone Durchdringung sind bei der ersten Fassung deutlich größer bekannte Motive und Themen sind immer da, doch erscheinen sie manchmal verschwommen wie hinter einer Milchglasscheibe. Weil sich daneben noch so viel anderes tut. Der süffige Mischklang der Aachener, die mit Bruckner nach mehreren Einspielungen viel Erfahrung haben, tut dazu das Seinige. Hier sorgt die Lesart des Originalklang-Verfechters Norrington für mehr Durchsicht.
Die Frühfassung wie Kai Wessler es im Booklet tut pauschal als experimenteller zu werten, scheint jedoch trotz aller Vielschichtigkeit, trotz oszillierender Klangflächen, die manchmal an Philip Glass erinnern, übertrieben. Weil das Ohr (zumindest in dieser Aufnahme) der hohen Komplexität nicht vollends folgen kann, subsumiert es den Zusammenklang nicht selten als lyrischen Breitwand-Sound. Dann singen die Streicher edel, tönt das Blech samtig und dunkel.
Melodien und Rhythmen, die einsam wie über einem Abgrund schweben, findet man dagegen eher in der späten Version. Wie übrigens auch die herrliche Apotheose des zentralen Quint-Motivs gespielt unisono von vier Hörnern am Ende des ersten Satzes. In der ersten Version dagegen bleibt nach kaum enden wollenden Punktierungen an der gleichen Stelle irgendwie ein schales Gefühl zurück. Dennoch ist diese Aufnahme eine Bereicherung der Diskografie.
Johannes Killyen