Henze, Hans Werner

Sinfonia N. 10

in vier Sätzen für großes Orchester, Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2002
erschienen in: das Orchester 11/2006 , Seite 92

Trotz gelegentlicher Nachrufe hat die Sinfonie – Kernstück klassisch-romantischen Musikschöpfertums deutscher Provenienz – das 20. Jahrhundert nicht nur überlebt, sondern in dieser Zeit dank markanter Komponistenpersönlichkeiten eine eindrucksvolle Weiterentwicklung erlebt. Bedenkt man allein, in welch origineller Manier die Generationsgenossen Hartmann, Schostakowitsch und Pettersson sich jeweils des Erbes annahmen, es weiterdachten, so wird deutlich, dass sinfonisches Komponieren auch in Zeiten formaler und ästhetischer Auflösungsprozesse keineswegs zwangsläufig als Rückgriff auf anachronistische Modelle misszuverstehen ist.
Der – bei aller Scheu vor Superlativen sei’s gesagt – bedeutendste Sinfoniker unserer Zeit ist Hans Werner Henze, wobei sein sinfonischer Weg weniger als mahlersches Work in Progress denn vielmehr als Geschichte immer wieder neuer Ansätze zur Erschließung der Gattung erscheint. Nach einer Gruppe früher Werke, in denen sich eine individuelle Idiomatik allmählich herausschälte, und drei weiteren Sinfonien (Nr. 4, 5 und 6), die jeweils in enger Verbindung zur Opern-, Ballett- und last not least politischen Bühne stehen, komponiert Henze seit seiner Siebten (1983/84) sinfonische Opera Summa, als deren verbindendes Element eine starke Affinität zu Sprache und Literatur anzusehen ist.
Seine 10. Sinfonie (1997/2000) konzipierte Henze als doppelte Hommage: an den Dirigenten Simon Rattle, der ihn zu dem Werk angeregt hatte („Sogleich hörte ich Kristallenes und Klares und Englisches in meinem inneren Ohr“), sowie an den Mäzen Paul Sacher, der – so Henzes Kommentar – „fand, dass es angebracht sei, [nach der Neunten] sofort eine weitere Sinfonie zu schreiben, um dem alten Aberglauben entgegen zu wirken, wonach die Neunte und die Zehnte das Maximum von Gefahr für das seelische und physische Gleichgewicht ihres Verfassers mit sich bringen“.
Satztitel wie „Ein Sturm“, „Ein Hymnus“, „Ein Tanz“, „Ein Traum“ sollten nicht dazu verleiten, im Inneren der vielgestaltigen Formen Programmmusik konventioneller Prägung zu vermuten. Gleichwohl bildet Sprache einen wichtigen Bezugspunkt. Der Musik wohnt ein rhetorisches, bisweilen – insbesondere in den „Stürmen“ des 1. Satzes – ein mimetisches Moment inne. Nirgends jedoch wird Explizites gesagt, der assoziative Raum ist so vielgestaltig, dass beispielsweise die immer wieder neu anrollenden Energien des Kopfsatzes keines lenkenden Hinweises bedürfen, um nicht auch als „pure“ Musik verständlich zu sein. Hier ebenso wie im hymnischen Legato des nur für Streicher gesetzten 2. Satzes, in der wilden Tanz-Toccata und im opulenten Klangrausch des Finales zeigt sich Henze auf der Höhe seines immensen Könnens. Bei aller Komplexität wirkt das Satzbild auf mirakulöse Weise transparent. Alles ist ausgehört, jede Farbe leuchtet unverfälscht. Wünschen wir uns, dass Henze – der heuer 80-Jährige – das Spektrum seines Schaffens noch mit einer 11. Sinfonie bereichert!
Gerhard Anders