Fauré, Gabriel

Sicilienne op. 78

für Violoncello und Klavier, hg. von Cornelia Nöckel, Fingersatz der Klavierstimme von Pascal Rogé, mit zusätzlicher bezeichneter Violoncellostimme von David Geringas

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Henle, München 2011
erschienen in: das Orchester 10/2011 , Seite 67

Als „Meister des Anmutigen“ charakterisierte Claude Debussy seinen Kollegen Gabriel Fauré. Mag neben Bewunderung auch Kritik in Debussys Worten mitschwingen, seine Formulierung trifft insofern ins Schwarze, als der Begriff Anmut die Qualitäten des Fauré-Stils – Grazie, Empfindsamkeit, nuancenreiche Harmonik – ebenso umfasst wie seine Limitationen: Der „Verlaine der Musik“ war kein Meister der epischen Großform. Eine seiner bekanntesten Piècen – ein Paradebeispiel für Faurés Kunst, zugleich eingängig und anspruchsvoll zu komponieren – ist die Sicilienne op. 78. 1893 konzipiert als Teil einer Bühnenmusik zu Molières Bourgeois gentilhomme, wurde sie vom Komponisten fünf Jahre später mehreren Bearbeitungen unterzogen: Es entstand eine Version für Orchester – sie wurde integriert in die Bühnenmusik zu Pelléas et Mélisande – sowie eine Kammermusikfassung für Violoncello und Klavier.
Cornelia Nöckel, Herausgeberin der vorliegenden Urtext-Ausgabe, erläutert ihren editorischen Ansatz: Kurz nacheinander erschienen 1898 die Erstdrucke bei Metzler & Co. in London und Hamelle in Paris. Die beiden Ausgaben gehen offensichtlich auf eine gemeinsame Quelle zurück, wiewohl sie in Details der Artikulation und Dynamik Unterschiede aufweisen. Aufschlussreich ist jedoch, dass sich sowohl Metzler als auch Hamelle in vielen Punkten signifikant unterscheiden vom Autograf Faurés. Dieses enthält keine Stichvermerke, sodass vieles dafür spricht, dass Fauré nicht das Autograf, sondern eine hiervon abweichende Version als Ausgangspunkt der Drucklegung vorgesehen hatte. Offenbar existierte eine Abschrift Faurés, die zunächst der Metzler-Ausgabe zu Grunde lag. In den Druckfahnen dieser Ausgabe nahm Fauré noch Änderungen vor, bevor er sie Hamelle als Stichvorlage übergab. Daher, so Cornelia Nöckel, sei dem Hamelle-Erstdruck der editorische Wert eines von Fauré autorisierten Notentextes zuzusprechen und somit begegnen wir in der neuen Henle-Ausgabe der Wiedergabe des Hamelle-Drucks.
Die Argumentation ist schlüssig. Interessanterweise lehnt sich die konkurrierende Urtext-Ausgabe der Edition Peters (erschienen 1994) in manchen Details mehr an den Autograf-Text an. Somit können wir beide Versionen und ihre teils beträchtlichen Unterschiede miteinander vergleichen. Besonders auffällig ist die artikulatorische Vereinheitlichung des charakteristischen „Pastoral“-Motivs in der Hamelle-/Henle-Fassung: Die drei Noten sind hier ausnahmslos unter einem Bogen miteinander verbunden. Bei allem Respekt vor Faurés mutmaßlich letztem Willen: Die differenzierte Version des Autografs – mal sind alle drei, mal die ersten beiden Noten gebunden – hat auch ihren Reiz!
Selbstverständlich entspricht dieser Band in allen Belangen gewohntem Henle-Standard. Die Ausgabe enthält ein bezeichnetes und ein unbezeichnetes Exemplar der Cellostimme, David Geringas’ Fingersatzvorschläge sind wie immer makellos.
Gerhard Anders