Saunders, Rebecca / Mauro Lanza / Nicolaus A. Huber / Bernd Alois Zimmermann

Sichtbare Spuren

edition musikFabrik 02

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo WER 6852 2
erschienen in: das Orchester 10/2010 , Seite 77

Die Pflege zeitgenössischer Musik verstehen deutsche Rundfunkanstalten im Allgemeinen nicht eben als vorrangige Aufgabe. Eine rühmliche Ausnahme bildet hier nur der WDR Köln – und das nicht erst seit 2003, als sich die so genannte musikFabrik zu dem Zweck gründete, mit einer eigenen Uraufführungsreihe auf sich aufmerksam zu machen. Das Schöne an dieser Reihe ist, dass die engagierten Musiker nicht einfach in zumeist tiefnächtlichen Nischen unter sich bleiben wollen, sondern mutig an die Öffentlichkeit treten, indem sie die erlesensten Früchte ihres Schaffens per CD einem breiteren Publikum zugänglich machen. Nach der ersten CD dieser Reihe (Sprechgesänge) legt Wergo in erstaunlich kurzem Abstand die CDs Nummer 02 und 03 nach.
Die zweite CD der Reihe ist mit Sichtbare Spuren überschrieben, dem Titel der Komposition für elf Solisten und Dirigent von Rebecca Saunders. Und, um mir den Kalauer nicht entgehen zu lassen, es „saundet“ in höchstem Maße interessant, wie die Komponistin die unsichtbaren Dinge in ihren Spuren sichtbar werden lässt. Denn das ist, laut Booklet, der Sinn der Sache: Spuren nachzuempfinden, die ja immer von etwas erzählen, „das nicht mehr da ist“. Saunders greift hier – wie auch in ihren anderen Kompositionen – wieder tief in den Farbtopf der Klänge. Im Vesperbild von Mauro Lanza, dem instrumentalen Epilog zu seinem Gesangszyklus Nessun suono d’acqua, kommunizieren die uns vertrauten klassischen Instrumente mit Spielzeuginstrumenten und ironisieren auf diese Weise die aus dem 14. Jahrhundert überkommene Marienklage. Eine Pietà, der zwar das Gefühl von Verlassenheit nicht fremd ist, die jedoch in Gruppengestalt als „Threnos der Puppen“ (Lanza) eine groteske Aufstellung erfährt.
Ungewöhnlich ist auch das Instrumentarium in Nicolaus A. Hubers Music on Canvas, wenn er z.B. eine Menschenmenge, ein gemüseschneidendes Küchenmesser und einen Jogger bemüht, um entfernte Klangwelten großflächig auf einer imaginären Leinwand einander sich kreuzen zu lassen. Huber geht es dabei um die Darstellung des Abstands, „der zwischen Kunst und Alltag immer noch besteht“. Trotz dieses durchaus ernsten Ansatzes wäre angesichts der zeitweise etwas schrullig anmutenden Klangwirkungen ein kleiner Schuss Humor nicht fehl am Platz gewesen. Geradezu klassisch wirkt in dieser Gesellschaft Bernd Alois Zimmermanns Metamorphose aus den Jahren 1953/54, eine Musik zu dem gleichnamigen Experimentalfilm Michael Wolgensingers, in der Jazz und Dodekafonie, Avantgarde und Rumbarhythmen einander die Hand reichen. Ein gelungener Versuch des Komponisten, auch einmal eine „leichte“ Musik zu schreiben.
Der Titel der dritten CD dieser Reihe, Vom Himmel zur Hölle, versucht die drei hier vereinigten Werke unter einen Hut zu bringen. Martin Smolka geht in Rush (hour in celestial streets) der schlitzohrig anmutenden Frage nach, ob denn nicht auch im Himmel die Straßenverkehrsordnung gelte und zeichnet in seiner abwechslungs- und spannungsreichen Komposition einen Verkehrsstau im himmlischen Feierabendverkehr der Engel nach.
Der 2008 verstorbene Altmeister der Moderne, Mauricio Kagel, vertritt mit seiner höchst originellen Orchestrion-Straat gleichsam den irdischen Part dieser Zusammenstellung, indem er von einem Musikautomaten der besonderen Art, der seine Existenz der Nachahmung durch „richtige“ Musiker verdankt, Unterhaltungsmusik erklingen lässt. Kagel rekurriert hier auf eine Romanfigur Hans Henny Jahnns, einen Knaben, der sich mit einem sich selbstständig machenden Musikautomaten konfrontiert sieht.
Louis Andriessen schließlich gibt mit Racconto dall’Inferno der Hölle Klang und widerlegt so Dantes Diktum, wonach es in der Hölle keine Musik geben könne. Nur, dass die höllischen Klänge anders gestrickt sind: Für die in ihren Wiederholungsschleifen Eingesperrten gibt es hörbar kein Entrinnen. Das Werk, in dem eine Stimme zwei Gesänge aus Dantes Inferno gleichsam gesanglich rezitiert, erinnert in seinem Duktus ein wenig an Schnittkes Faustkantate. Für mich die faszinierendste Komposition beider CDs, deren Eindringlichkeit von der dunkel timbrierten und so recht in keine Schublade passen wollenden Stimme Cristina Zavallonis nachdrücklich unterstrichen wird.
Friedemann Kluge