Tarnow, Volker
Sibelius
Biografie
Es wurde Zeit. Seit 1962 ist keine halbwegs brauchbare Sibelius-Monografie in deutscher Sprache erschienen. Einige Aufschlüsse zu den Titelthemen gaben die Aufsatzsammlungen Sibelius und Deutschland (Berlin 2000) und Jean Sibelius und Wien (Wien 2003). Doch der weitwinklige biografische Aufriss, der die Lebensumstände des Komponisten, seinen Charakter und sein Schaffen unvoreingenommen zur Sprache bringt und zueinander in Beziehung setzt, blieb bislang ein frommer Wunsch.
Der große Vorzug der flott erzählten Biografie, die der Musikpublizist Volker Tarnow pünktlich zum 150. Geburtstag des finnischen Nationalkomponisten vorlegt, ist ihre gefühlte Lebensnähe. Soweit Sibelius diese überhaupt zulässt. Räumt Tarnow doch gegen Buchende mit Sigmund Freud ein: Die (ganze) biografische Wahrheit ist nicht zu haben. Was nicht zuletzt den schöpferischen Einbruch betrifft, den der Komponist nach 1926 erlitt, samt dem Rätsel um die unvollendete und unauffindbare 8. Sinfonie.
Immerhin schöpft der Autor aus der biografischen Primärquelle: den 2005 von Fabian Dahlström edierten Tagebuchaufzeichnungen (1909-1944). Des Schwedischen mächtig, zehrt er außerdem von der mehrbändigen Dokumentarbiografie, die Erik Tawaststjerna vor einigen Jahren herausbrachte. Weitere Fundgruben: die Korrespondenz zwischen Sibelius und seinem vertrauten Freund Axel Carpelan und Bo Wallners umfassende Studie über Wilhelm Stenhammar und seine Zeit.
Neben den als zwiespältig erlebten familiären Bindungen schildert Tarnow die politischen Verhältnisse und zeitgeschichtlichen Ereignisse, die auf Sibelius eindrangen: vom nationalen Erwachen, das sich gegen die russische Herrschaft wie das kulturelle Übergewicht der schwedischen Minderheit richtete, über die Wirren der Russischen Revolution bis zum Winterkrieg 1939/40, in dem sich Finnland zäh gegen den sowjetischen Einfall verteidigte, bevor es 1941 in unseliger Allianz mit Hitler-Deutschland in den sogenannten Fortsetzungskrieg eintrat.
Auch behält der Biograf den kulturgeschichtlichen Zeithintergrund durchgehend im Auge sei es auf dem sensiblen finnisch-schwedischen Terrain, sei es mit Blick auf Russland, Frankreich oder die seiner Musik besonders gewogenen angelsächsischen Länder. Vor allem in der Musik der skandinavischen Länder kennt Tarnow sich bestens aus. Angesichts der Fünften von Sibelius, der Vierten von Hugo Alfvén Från Havsbandet (Vom Saum des Meeres) wie auch Carl Nielsens 4. Symphonie Det Uudslukkelige (Das Unauslöschliche), die alle um 1918 entstanden, spricht er geradezu von einem avantgardistischen Forschungslabor des Nordens. Tatsächlich ist allen die Idee des Alles aus einem gemeinsam, folglich die Neigung zur durchkomponierten Großform.
Wie schwer es Sibelius seiner Frau Aino Järnefelt, seinen Freunden und Förderern machte auch davon weiß der Autor ein Lied zu singen. Trunksucht und Zigarrenkonsum, Hypochondrie und Paranoia nahmen oftmals groteske Züge an. Bei alledem kommt der musikliebende Leser nicht zu kurz, der (etwa vor einem Konzertbesuch) Aufschluss über einzelne Werke sucht, ohne viel Vorwissen mitzubringen.
Lutz Lesle