Mozart, Wolfgang Amadeus
Serenade Es-Dur KV 375
für Bläseroktett, Urtext, Studienpartitur/Stimmen
Nach dem Tod Lenins schnitten russische Wissenschaftler das Gehirn des großen Revolutionärs in Scheiben, um so der Substanz seiner Genialität auf die Spur zu kommen. Und auch Mozarts vermeintlicher Schädel, der in einem Salzburger Panzerschrank lagert, ist schon von Heerscharen wissbegieriger Anthropologen untersucht und vermessen worden, die sich daraus Einblick in das Phänomen des musikalischen Genies erhofften. Dass weder die Politik noch die Musikwelt von diesen fragwürdigen Untersuchungen um ernst zu nehmende Erkenntnisse bereichert wurden, kann man sich denken.
Gott sei Dank ist die Wissenschaft inzwischen dahingekommen, sich dem Genie über die geistigen Hinterlassenschaften historischer Persönlichkeiten zu nähern und nicht durch pietätlose Störung der Totenruhe. In diesem Sinne können zwei kürzlich erschienene Neuausgaben des Henle-Verlags vielleicht bei genauer Betrachtung einen kleinen Einblick in das Geheimnis der Instrumentierungskunst Wolfgang Amadeus Mozarts, insbesondere seiner kompositorischen Behandlung der Blasinstrumente geben.
Henrik Wiese veröffentlichte als Urtextausgaben die Sextett- und Oktettfassung der Bläserserenade Es-Dur KV 375. Beide Versionen sind (zum allergrößten Teil zumindest) autograf überliefert. Der Herausgeber hält sich in seiner Edition bis hin zur Balkensetzung penibel an die Handschriften und kommt, obgleich es sich ja um ein- und dieselbe kompositorische Substanz handelt, zu dem Ergebnis: Beide Fassungen unterscheiden sich in so vielen Details, dass sie als eigenständig zu bezeichnen sind; auf eine Angleichung wurde daher verzichtet.
Und eben das macht diese beiden Partituren zu einer Fundgrube für alle, die Mozarts Kompositionstechnik tiefer ergründen wollen: Die Erweiterung des Sextetts mit jeweils zwei Klarinetten, Hörnern und Fagotten um zwei Oboen zeigt an zahllosen Details deutlich das Bemühen des großen Salzburger Meisters, die Kammerkomposition den blaßinstrumenten eigen und gleichwohl sinfonisch wirkungsvoll zu gestalten. So ist anhand der beiden Editionen zu beobachten, wie Mozart eine melodische Linie nicht immer in der absolut gleichen Gestalt übernimmt, wenn er zum Beispiel ein ursprünglich für Klarinette komponiertes Motiv auf die Oboe überträgt. Überraschend auch eine Passage im Finalsatz, in der die Melodielinie, die in der Ursprungsfassung alternierend von den beiden Klarinetten ausgeführt wird, nicht nur an die Oboe weitergereicht wird, sondern plötzlich ins Fagott wandert, das an der analogen Stelle der Sextettfassung lediglich begleitende Funktion hatte
In die Problematik der Editionen führt der Herausgeber mit Hilfe eines pointierten Vorworts ein. Dieses findet sich, ebenso wie der detaillierte Revisionsbericht, nicht nur in den Partituren, sondern auch in der ersten Stimme des vorbildlichst gestalteten Aufführungsmaterials.
Bernd Distelkamp