Tüür, Erkki-Sven
Saltatio Borealis
für Klarinette und Klavier (2012)
Im Werkkatalog des estnischen Komponisten Erkki-Sven Tüür sind Holzblasinstrumente noch nicht allzu häufig mit Kammermusik bedacht worden. In seiner frühen Schaffensphase hat der 1959 auf der Insel Hiiumaa geborene Komponist diese in der Architectonics betitelten Werkreihe im Ensemble integriert. Die Entstehung eines Werks für Klarinette und Klavier ist dem Auftrag zu verdanken, für den Bläserwettbewerb Estlands 2012 eine Wettbewerbskomposition zu schreiben.
Mit Saltatio Borealis (Nordischer Tanz) ist ein äußerst interessantes und klarinetten-spezifisches Werk entstanden, in dem Tüür die klangtypischen Besonderheiten die Gegenüberstellung der tiefen und hohen Register als wesentliches Element der Komposition nutzt. Tüürs Tonsprache ist konzentriert und von differenzierter Klanglichkeit. So beginnt er in der Klarinette mit einem lang gehaltenen c’ im dreifachen Forte, das in einen sich beschleunigenden und wieder verlangsamenden Vierteltontriller im Piano übergeht. Unterlegt wird dies mit einem pedalisierten Klavierklang, der sich aus einer vom c’ bis zum Kontra-C abstürzenden Basslinie ergibt. Die tiefe Klanglage wird beibehalten, die Klarinette umspielt in dichter Folge den Achsenton c. Einzelne, im Klavierkorpus gezupfte Töne in tiefster Lage erweitern den Tonraum in die Tiefe. Nach 20 Takten wird der Raum in den Diskant erweitert, und nun setzt ein vielfältiges Wechselspiel der Tonlagen ein, in dem frei gestaltbare Multiphonics und Glissandi in der Klarinette weitere Farben ins Spiel bringen. Die rhythmischen Abläufe zeigen ein vereinheitlichendes Element, das durch die Zahlenreihe 8 (32tel), 6 (Sextole), 5 (Quintole), 4 (16tel), 3 (Triole) und deren Varianten gegeben ist.
Kontrastreich ist die Satztechnik: Lineare Verläufe werden von ruhigeren akkordischen Partien unterbrochen, in denen eine Vorliebe für Quartenakkorde und zarte Tönungen zu bemerken ist. Nach 110 Takten nimmt die Musik an Bewegung zu und ein gleichmäßigeres Pulsieren bestimmt den Klavierpart. Durch Arpeggien und weite Sprünge folgen Registerwechsel dichter aufeinander; als Zielpunkte dienen Spitzentöne in der höchsten Lage mit Mikrointervall-Trillern. Im letzten Drittel kommt es zu einem ekstatischen Höhepunkt, dem nach einem dreimaligen Anlauf ein letzter Aufstieg zum a”” folgt, dem die rhythmisiert gezupfte Subkontra-C-Klaviersaite entgegengesetzt wird. Schließlich taucht die Klarinette in den pedalisierten Klang mit einem letzten verklingenden Mikrointervall-Triller in der tiefen Lage ein.
Der achtminütige Saltatio Borealis ist eine sehr wirkungsvolle Komposition, die auch Hörern zugänglich ist, die nicht zum Publikum von Festivals Neuer Musik gehören. Die Interpreten sollten über einige Erfahrung mit neuen Spieltechniken verfügen, müssen aber nicht explizit Spezialisten für Neue Musik sein, da sich die Anforderungen in dieser Hinsicht im Klarinettenpart auf wenige (sich wiederholende) Stellen beschränken. Leider erschwert der zu enge Druck des Klavierparts dem Pianisten das schnelle Lesen der mit zahlreichen Akzidentien versehenen Akkordgebilde.
Heribert Haase