Mathias Gredig, Matthias Schmidt, Cordula Seger (Hg.)

Salonorchester in den Alpen

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Chronos Verlag, Zürich
erschienen in: das Orchester 7-8/2024 , Seite 65

Von 1860 bis 1950 – vereinzelt noch heute – waren Salonorchester in den Alpen selbstverständlich. Und doch ist deren Geschichte weitgehend unbekannt. „Weder in der Musikwissenschaft noch in der Tourismusforschung wurde sie genauer untersucht,“ bilanzieren Mathias Gredig, Matthias Schmidt und Cordula Seger in ihrer Publikation, die das Ergebnis einer vom Institut für Kulturforschung Graubünden und der Universität Basel konzipierten internationalen Tagung war. Sie fand Ende Juni 2022 in St. Moritz und Pontresina statt. Die Vorträge wurden nicht an einem Ort gehalten, sondern in unterschiedlichen, reizvollen Lokationen: im Hotel Reine Victoria in St. Moritz sowie im Taiswald, im Hotel Saratz und im Museum Alpin in Pontresina. Die Vorträge wurden begleitet von Salonmusik, teils aufgezeichneter, aber vorwiegend live gespielter. „Salonorchester“ verstanden als „kleine Musikensembles, deren Kern aus einem Trio mit Violine, Cello und Klavier und/oder Harmonium besteht. Zum Trio kamen, je nach Umständen, weitere Streich- und dann auch Blas- und Perkussionsinstrumente hinzu“, so liest man. Das Buch zeichnet in vierzehn Kapiteln das Panorama einer vergessenen Musikkultur nach und es ermöglicht einen ersten Überblick über ein schillerndes und vielschichtiges Phänomen, denn die Salonorchester wurden „auf der Grundlage historischer Quellen mithilfe unterschiedlicher Themenfelder wie Migration, Sport oder Tanz untersucht“.
Solche Salonorchester wurden in den Alpen von allen größeren Kurvereinen und Hotels engagiert. Sie hatten vom Morgen bis spät in die Nacht in allen möglichen Funktionen aufzutreten. Sie spielten bei Trinkkuren oder zum Frühstück auf, boten Unterhaltung bei Eislauffeldern und Picknicks oder luden zum Tanz ein.
„Manchmal hatten sie ohne Tasteninstrumente zu spielen – im Freien ersetzten mitunter Akkordeons oder Zupfinstrumente das Klavier –, teils traten sie als reine Blaskapellen auf. Ab Ende der 1910er Jahre wandelten sich die Salonorchester des Abends überdies zu Jazzbands.“
Die vierzehn Autorinnen und Autoren des Buchs gewähren präzise Einblicke in Arbeitsbedingungen, Zusammensetzung und Herkunft der Musiker:innen, in Repertoire, Aufführungspraxis, die Kunst des Arrangierens, die Konzertprogramme und die favorisierten Tänze in den Engadiner Hotels, aber auch in die Tourismusentwicklung (am Beispiel Merans), die ja die Rahmenbedingung der alpinen Salonorchesterkultur lieferte. Das Buch ist die verdienstvolle Musikgeschichte einer untergehenden Kultur. Nur noch in Pontresina und St. Moritz treten von Juni bis September die einzigen verbliebenen Kurorchester der Schweiz täglich mit neuem Programm auf. Ein Abgesang, der eine Lücke schließt.
Dieter David Scholz