Dvorák, Antonín

Rusalka

Rubrik: DVDs
Verlag/Label: TDK
erschienen in: das Orchester 01/2005 , Seite 92

Am 1. Juni 2002 hatte an der Pariser Bastille-Oper die Oper Rusalka von Antonín Dvo¡rák Premiere. Publikum und Presse überschlugen sich vor Begeisterung. Die außergewöhnliche Inszenierung des kanadischen Regisseurs Robert Carsen wurde als Sternstunde des Musiktheaters gefeiert, und das mit gutem Grund. So anders und so einleuchtend sah man das böhmische Nixenmärchen noch nie: Kein höfisches Tanzritual, kein klassisch-romantisches Ballettstück, keine konventionelle Einlage der Ballettkompanie des Hauses ist in Robert Carsens Rusalka-Inszenierung zu sehen, wenn die Ballettmusik des zweiten Akts erklingt. Stattdessen schreitet beim Hochzeitsball des Prinzen die verblüffende Vervielfältigung der Protagonisten über die Bühne, lauter Rusalka- und Prinz-Klone, der Gipfel der psychoanalytischen Lesart dieser romantischen Oper.
Schon das Libretto Jaroslav Kvapils sprengt durch die Verknappung des Märchens zum Psychodrama die Märchenidyllik des späten 19. Jahrhunderts. Robert Carsen zeigt es folgerichtig in seiner Pariser Inszenierung vollends als psychoanalytisches Stück über die Sehnsüchte und Ängste Rusalkas, die die amerikanische Sopranistin Renée Fleming mit unübertroffener Stimmschönheit, Ausdruckskraft und Gefühlstiefe verkörpert: eine schöne Frau, ganz in weiß, ohne jedes Undinenoutfit und -getue.
Rusalka, die Nixe, die Mensch werden möchte, um geliebt zu werden, sie ist in der strengen, schönen Inszenierung Robert Carsens und seines Ausstatters Michael Levine die einzige reale Figur auf der Bühne, neben dem von ihr geliebten Prinzen. Alle übrigen Frauen einschließlich der Nebenbuhlerin, der fremden Fürstin, sind nur Spiegelbilder und Verdoppelungen ihrer selbst sowie ihres Verlangens nach Liebe und Verständnis, nach Vertrauen und menschlicher Wärme. Die Männer der Inszenierung, der Wassermann – nobel verkörpert und gesungen von Franz Hawlata – und Rusalkas Liebesobjekt, der Prinz, gesungen von Sergej Larin, beide im modernen Straßenanzug, sind nur gedoppelte Verkörperungen ein und derselben Sehnsucht nach dem Vater: Auch sie fungieren nur als psychologische Vehikel. Die ganze Märchen-Welt besteht nur aus dem gespiegelten Innenleben Rusalkas: Es ist zum Wahnsinnigwerden.
Diesen Wahnsinn zeigt Carsen auf der Bühne. In einem großen, blauen, die ganze Bühne ausfüllenden Wasserbecken spiegelt sich vom Bühnenhimmel der Lieblingsspielplatz Carsens: das bürgerliche Schlafzimmer, ein Wiener Doppelbett mit Nachttischlämpchen. Mit der optischen Spiegelung von Wasserfläche und Schlafzimmer gelingt Carsen die Übertragung des Nixenmärchens in die Sphäre von Psychoanalyse und Traumdeutung. Seine konsequente Personenführung, die Theatralik seiner klug durchdachten, einleuchtenden, ästhetischen Inszenierung besticht durch Zeitlosigkeit, ja Aktualität ebenso wie durch bildhafte Poesie. Geradezu traumhaft ist das Lichtspiel seines Bühnenbildners Michael Levine, der blau wallende Atmosphäre von fließendem Wasser, schwarze Nacht, weiße Schlafzimmerhelligkeit und pyrotechnische Effekte geschickt ineinander zu verweben weiß. Larissa Diadkova, die als Hexe auch nur einen, den lasziven, elementaren, den triebhaften Teil Rusalkas verkörpert, ist eine ebenso faszinierende Sängerin wie die singuläre Renée Fleming, gewiss die derzeit beste Rusalka-Sängerin. Aber auch Sergej Larin übertrifft als Prinz alle Erwartungen. So gut hat man ihn selten gehört.
James Conlon am Pult trägt mit seiner analytisch-sensiblen Lesart vom Pult aus der psychologischen Inszenierung vollauf Rechnung. Ein Glücksfall! Die Produktion hat Modellcharakter. An ihr wird sich jede neue Interpretation des Stücks messen lassen müssen.
Dieter David Scholz