Holliger, Heinz / Clara Schumann

Romancendres / Gesänge der Frühe / Drei Romanzen op. 22

Rubrik: CDs
Verlag/Label: ECM New Series 2055 476 322
erschienen in: das Orchester 09/2010 , Seite 66

Welch ein Beziehungsgeflecht: 1853 komponiert Clara Schumann drei anmutige Romanzen für Violine und Klavier. Im selben Jahr führt der Geigenvirtuose Joseph Joachim den jungen Brahms bei den Schumanns in Düsseldorf ein. Begeistert von seinen frühen „Sonaten, mehr verschleierten Symphonien“, feiert Schumann ihn in seiner Zeitschrift als „wahren Apostel“, dessen Offenbarungen „viele Pharisäer auch nach Jahrhunderten noch nicht enträtseln werden“. Während Johannes und Clara ihre Zuneigung entdecken, schlägt Robert in fünf Klavierstücken, die er Gesänge der Frühe – an Diotima nennt, selbst neue Bahnen ein. Als Joachim und Brahms herumrätseln, wer Diotima sei, widmet Schumann den Zyklus um: „der hohen Dichterin Bettina“. Die Schwester des Dichters Achim von Arnim, die sich als erste mit dem Gedanken trug, Hölderlin zu vertonen, war im Spätherbst 1853 bei den Schumanns zu Gast.
Damals arbeitete Robert an fünf Romanzen für Violoncello und Klavier. „Die Romanzen haben uns sehr erlabt“, lässt Joachim den Komponisten wissen. Anfang März 1854 kommt Schumann in die Irrenanstalt Endenich bei Bonn, wo er Ende Juli stirbt. Vierzig Jahre nach ihrer Entstehung verbrennt Clara seine Cello-Romanzen – mit Brahms’ Einverständnis! Bargen die Noten intime Botschaften, die sie der Nachwelt vorenthalten wollte?
Von dem Magnetfeld „Hölderlin – von Arnim – die beiden Schumanns – Brahms“ fühlt sich der Schweizer Komponist und Interpret Heinz Holliger beständig angezogen. 1987 komponierte er Gesänge der Frühe für Chor, Orchester und Tonband. Darin deutet er das erste Klavierstück aus Schumanns gleichnamigem Zyklus zum Chorsatz um, bevor er Zitate aus Manfred und den Geistervariationen, Tagebuchnotizen Schumanns, Zeitdokumente (Briefe von Arnims, Arztberichte aus Endenich) sowie Gedichte und Sentenzen Hölderlins zu einer Collage verflicht, die er zunehmend mit seiner eigenen Klangschrift überschreibt. Schumanns Halluzinationen aufnehmend, mutieren die Engelszungen des Chors zu Dämonenstimmen.
Einen Auftrag des Lucerne Festivals nutzend, errichtete Holliger dem verbrannten Zyklus 2003 ein Denkmal. Romancendres sind vier Romanzen für Violoncello und Klavier, umrahmt von zwei Kondukten. Die Binnenstücke bezeichnen Momente aus Schumanns Leben: „Aurora (Nachts)“ ist ein Abbild jugendlicher Hoffnung, überschattet von nächtlichen Heimsuchungen; „R(asche)S Flügelschlagen“ erinnert an Schumanns Körperbewegungen im Wahn (veranschaulicht durch Anschlagen der Flügelsaiten); der ungestüme „Würgengel der Gegenwart“ verscheucht die Quälgeister und Dämonen. Die „heiter bewegt“-Triller-Romanze mit dem Zusatz „Es wehet ein Schatten darin“ spielt auf Joachims oben zitierte Briefstelle an. Das grummelnde B im Bass meint Brahms, der verlauten ließ, ihm habe die Einäscherung der Cellostücke „sehr imponiert“.
Das Duo Christoph Richter/Dénes Várjon spielt sie – nebst einer Cello-Version von Claras Violin-Romanzen – berückend schön. Authentisch, weil vom Komponisten dirigiert, zudem die Gesänge der Frühe „nach Robert Schumann und Friedrich Hölderlin“ durch das SWR Vokalensemble und das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR.
Lutz Lesle