Rodion Shchedrin

Ein Komponist der russischen Moderne, aus dem Russischen übersetzt von Tatiana Vert. Unter Mitarbeit von Natalia Nicklas

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2007
erschienen in: das Orchester 05/2008 , Seite 56

Dieses Buch dokumentiert die Geschichte eines großen Erfolgs. Sie beginnt 1954. Am Moskauer Konservatorium hebt Gennadij Roschdestwenskij das 1. Klavierkonzert von Rodion Shchedrin aus der Taufe, das auch im Ausland zum Renner wird. Und Moskaus berühmtes Bolschoi-Theater trägt dem 22-jährigen Studenten die Zusammenarbeit an und bringt seine ersten Opern Nicht nur Liebe (1961) und Die toten Seelen (1977) und schon ab 1955 alle fünf Ballette mit der gefeierten Primaballerina Maya Plisetskaya zur Uraufführung. Ihr sind sie gewidmet; 1958 wird sie seine Ehefrau.
Politische Hindernisse und ideologische Zwänge konnten dann nicht verhindern, dass Shchedrin bereits zu Sowjetzeiten international präsent (u.a. 1968 Uraufführung des 2. Orchesterkonzerts Glockenklänge durch Leonard Bernstein und die New Yorker Philharmoniker) und im Musikleben als Vorsitzender des russischen Komponistenverbandes (1973 in der Nachfolge Schostakowitschs) nicht ohne Einfluss war. Wenn heute die Linien seines Lebens zwischen Moskau, München und Litauen verlaufen, wenn seine Werke in den Musikmetropolen der Welt heimisch sind, so bleibt doch immer Russland in Shchedrins Musik allgegenwärtig. Seine Bühnen- und Vokalwerke sind ohne die russischen Dichter undenkbar. Und die schillernde Vielfalt seiner Klangwelt, in der er in postmoderner Manier virtuos auf der Klaviatur aller möglichen Techniken und Mittel spielt, überdeckt ihren Nationalcharakter keineswegs. Die frechen Scherzlieder der frühen Werke, die Glockenklänge, Zirkusmärsche und „Gesichter russischer Märchen“ in den Orchesterstücken, die Traditionen von Bylinen, slawischer Kirchenmusik und Mussorgskys großen Choropern mit ihren sozialkritischen Akzenten (Die Bojarin Morosowa, 2006) artikulieren allesamt im Individuellen die Besonderheiten seines Heimatlandes.
Auch die Freude an virtuosem Spiel, brillanten Farben und überwältigender Wirkung ist ihnen anzuhören. Und die Assimilation von Ost und West, von Gegenwart und Historie zeigt Shchedrin ebenso im Gefolge Skrjabins, Rachmaninows, Prokofjews und Schostakowitschs wie die Personalunion als Pianist und Komponist, deren Grundlagen Jakow Flier und Jurij Schaporin während des Studiums am Moskauer Konservatorium gelegt haben.
Von diesem erfolgreichen Lebenslauf und Schaffensweg gibt die neue Veröffentlichung des Verlags aus Anlass des 75. Geburtstags „seines Exklusivkünstlers“ – und nach Valentina Cholopovas Der Weg ins Zentrum die zweite innerhalb von fünf Jahren – detailliert Auskunft. Wer aber die Texte verfasst hat, wem die Montage der zahlreichen Zitate, Werkbeschreibungen und Kommentare der internationalen Interpreten-Elite zu einem aussagestarken und anregenden Diskurs gelang und wer für die attraktive Ausstattung mit Bildern und Notenbeispielen gesorgt hat, ist nicht ersichtlich. So kann sich zuerst der Verlag über die Anerkennung freuen, die dieses neue aufschlussreiche und eindrucksvolle Porträt (und „Selbstporträt“) Rodion Shchedrins verdient.
Eberhard Kneipel