Scholz, Dieter David
Richard Wagner
Eine europäische Biographie
Die Grundidee der vorliegenden Neuerscheinung klingt vielversprechend: keine Konkurrenz zu den großen, verdienstvollen Wagnerbiographien, sondern ein neuer Ansatz durch den europäischen Kontext. Die Darstellung der europäischen Vernetzung des Dichterkomponisten, der einen Großteil seines Lebens, teils absichtlich, teils gezwungenermaßen, außerhalb Deutschlands zubrachte, stellt tatsächlich ein Desideratum dar. Insofern erwartet der Leser eine Biografie, die sich insbesondere mit den Anregungen beschäftigt, die Wagner während seiner Auslandsaufenthalte für Denken und Werk einerseits empfangen, andererseits an die ausländischen Künstler weitergegeben hat.
Ein solcher Ansatz, der zu Beginn immerhin noch durch die Darlegungen zu Wagners frühem Plädoyer für eine supranationale Musik (Briefe, Aufsatz Die deutsche Oper von 1834) zum Tragen kommt, wird aber nur allzubald aufgegeben. Dabei wäre es nicht nur interessant gewesen, den Wandlungen in der Auffassung zentraler Begriffe (deutsch, national etc.) nachzuspüren, etwa anhand des hier nur beiläufig gestreiften, aber für Wagner seit den 1860er Jahren bedeutsamen Terminus deutscher Geist, sondern auch konkreten Einflüssen und Wirkungen.
So erfährt man beispielsweise bei Scholz kaum etwas über die Auswirkungen der Konzertauftritte in London 1855 oder Brüssel 1860, die immerhin die Basis für eine zwar quantitativ begrenzte, aber intensive Wagner-Pflege in England und Belgien legten. Ohnehin verwundert die weitgehende Konzentration der zahlreichen Quellenzitate auf Selbstzeugnisse (Autobiografie, Briefe und Schriften) und Mitteilungen aus dem Wagner-Kreis (Tagebücher Cosima Wagners, Biografie Glasenapps), müssten doch gerade für das Vorhaben, Wagners europäisch geprägten Lebenskreis zu verdeutlichen, in reichem Maße relativierende Fremdzeugnisse herangezogen werden. Eine treffende, wenngleich keineswegs erschöpfende Auswahl hätte Scholz dazu in Werner Ottos Sammlung Richard Wagner. Ein Lebens- und Charakterbild in Dokumenten und zeitgenössischen Darstellungen (Berlin 1990) finden können.
Durch die einseitige Perspektive werden öfters beschönigende oder falsche Darstellungen Wagners kritiklos übernommen und dies, obwohl Scholz selbst davor warnt, Wagner auf den Leim zu gehen. So greift der Autor erneut auf die bereits im Wagner-Werk-Verzeichnis von 1986 widerlegte Inspirationslegende von La Spezia zurück, die angebliche Eingebung des Rheingold-Vorspiels mit Klarheit und Bestimmtheit in einer Art von somnambulem Zustand, und lässt auch in vielen weiteren Fällen die nötige kritische Distanz vermissen, wobei er konsequent an jüngeren Forschungsergebnissen (etwa zur Rolle und Position Minna Wagners, zum Begriff Zukunftsmusik usw.) vorbeischreibt.
Im Gegensatz zum in der Einleitung reklamierten Anspruch ist das Buch nur eine gewöhnliche Biografie geworden, die sich trotz fehlender Erläuterungen (wie zum Nietzsche-Zitat, Wagner sei unter Deutschen bloß ein Mißverständnis) und sorglosen Umgangs mit Details (falsche Namen wie z.B. Marius statt Lucien Petipa; Emilie Olivier statt Émile Ollivier) für Leser ohne Vorkenntnisse und tiefer gehende Interessen durchaus empfiehlt. Sie ist überaus leicht lesbar, ja geradezu flott geschrieben und gelegentlich mit treffenden Bonmots versehen. Anspruchsvollere Leser werden sicherlich zu anderen Lebensdarstellungen (z.B. der kompakten Rowohlt-Monografie von Martin Geck) greifen, wir alle müssen aber weiter auf eine wirkliche europäische Biografie Wagners warten.
Peter Jost