Beyer, Marion / Jürgen May / Walter Werbeck (Hg.)
Richard Strauss. Späte Aufzeichnung
Bis in die 1980er Jahre wurde Richard Strauss als ein bajuwarischer Musiker mit hervorragendem Instinkt für Publikumserfolge, aber ohne tiefere Bildung angesehen. Die Strauss-Forschung der vergangenen Jahrzehnte konnte dieses Bild vielfach korrigieren. Für diejenigen, die dem Komponisten, seinem Denken und Empfinden ganz nahe kommen wollen, liegt nun eine wissenschaftlich gesicherte Ausgabe seiner späten Aufzeichnungen vor, die er ab 1932 in Schreibheften niederschrieb.
Für einen Komponisten ist es ziemlich einmalig, dass er eine Art Tagebuch führt und dabei sich in vieler Hinsicht über seine Musik, sein Denken und Handeln Rechenschaft ablegt. Die Aufzeichnungen sind zum Teil impressionistische Spiegelungen von Ereignissen und Erlebnissen, zum Teil aber auch, wie die Herausgeber treffend bemerken, bewusst für die Nachwelt geschrieben.
Die Herausgeber gliedern den Band nach den Quellen: zehn blaue und sechs graue Hefte. Zunächst wirkt es etwas unübersichtlich, dass keine Seitenzahlen angegeben sind, sondern die Hefte mit den Buchstaben B bzw. G für die Blauen bzw. Grauen Hefte und der jeweiligen Heftnummer gekennzeichnet werden. Aber auf diese Weise wird ein authentischer Eindruck erzielt.
Für Strauss-Liebhaber eröffnet sich die Möglichkeit vielfältiger Begegnungen mit dem Komponisten. Sie können sich hier über Musikerwitze oder -anekdoten amüsieren oder aus dem Blickwinkel von Richard Strauss verschiedenste Musiker und andere Persönlichkeiten dieser Zeit beobachten.
Längere Betrachtungen widmet Strauss in diesen Notizen seinem Mentor Hans von Bülow oder seinem Vater Franz Strauss. Er reflektiert Über Wesen und Bedeutung der Oper, über die Geschichte der Aufführungen seiner eigenen Opern, über das Dirigieren, über die Melodie und vieles mehr. Als direkte Gegenwart spiegeln die Notizen die Geschehnisse der Nazizeit, etwa den Verlust der Ehrenämter oder das Verhältnis zu Joseph Goebbels.
Willi Schuh hatte in Betrachtungen und Erinnerungen bereits 1949 einen Teil dieser Aufzeichnungen veröffentlicht. Das Verdienst des neuen Bandes ist, dass die Aufzeichnungen in ihrer großen Fülle unverändert veröffentlicht werden. Dadurch ermöglicht dieser Band einen ungefilterten Zugang zu vielfältigen Aspekten des Straussschen Denkens und seiner Zeit.
Dieser Band wird so zu einer Fundgrube, um die Biografie und das Werk von Richard Strauss näher kennenzulernen. Darüber hinaus bietet er reiche Informationen zum Umfeld von Richard Strauss und damit zum Musik- und Kulturleben der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das umfangreiche Register, das in ein Personen-, Werk- und Ortsverzeichnis aufgegliedert ist, ermöglicht vielfältige Nachforschungen und Zugänge. So ist dieses Buch ein wertvolles Nachschlagewerk für die Musik und Kultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur für Strauss-Kenner.
Franzpeter Messmer