Astor Piazzola

Revolucionario

Lautaro Greco (Bandoneon), Sebastián Prusak (Violine), Cristian Zárate (Klavier), Sergio Rivas (Kontrabass), germanischen Martínez (Gitarre), Ltg. Julián Vat (Flöte und Saxofon)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: East 54 Entertainment
erschienen in: das Orchester 09/2019 , Seite 69

Er wuchs mit dem Jazz von New York auf, entdeckte als Teenager die Musik von Johann Sebastian Bach, studierte später in Argentinien Komposition bei Alberto Ginastera und analysierte die Werke von Igor Strawinsky. Als Komponist hegte Astor Piazzolla die höchsten Ambitionen. Dass er nebenbei auch Bandoneon spielte im Tango-Orchester von Aníbal Troilo, war ihm eher peinlich. Doch als er mit 32 Jahren zu Nadia Boulanger nach Paris ging, bemerkte die geniale Musikpädagogin sofort, dass das Klavier nicht sein eigentliches Instrument war – und dass er sich in seinen Kompositionen eher versteckte als offenbarte. Boulanger ermahnte ihn dringend, seine Wurzeln im argentinischen Tango nicht zu verleugnen, sondern sie zur Grundlage seines Schaffens zu machen. Piazzolla erzählte: „Plötzlich war ich wie befreit. Ich nahm alle meine Kompositionen, zehn Jahre meines Lebens, und warf sie innerhalb von zwei Sekunden weg.“

Stattdessen schuf er 1955, was dann als „Tango Nuevo“ berühmt werden sollte – eine stolze und dramatische Musik mit Elementen aus modernem Jazz, barocker Polyfonie und zeitgenössischer Polytonalität. Als ideale Besetzung gründete Piazzolla ein Quintett mit Bandoneon, Violine, Piano, Gitarre und Kontrabass. Das Bandoneon (Piazzollas eigener Part) bildet den Mittelpunkt, die Violine sorgt für die romanzenhaften Momente, elektrische Gitarre und Kontrabass reflektieren auch den Klang des Cool Jazz, das Klavier schlägt die Brücken. Eine Tangomusik zum Zuhören, nicht zum Tanzen. In Argentinien stieß Piazzolla damit zunächst auf wenig Gegenliebe. Der „Revolutionär“ wurde vielfach bedroht und verleumdet, auch mit Troilo kam es zum Zerwürfnis. Der große Erfolg kam erst um 1980 und im Ausland. Auf internationalen Festivals wurde Piazzollas Quintett damals als eine Art „World Jazz“ rezipiert. Seine Exil-Musik schien ein neues Argentinien zu beschwören – gegen die herrschende Militärdiktatur.

Nach seinem Tod (1992) initiierte Piazzollas Witwe die Neugründung der legendären Quintettformation. Im unüberschaubaren Meer der Piazzolla-Adaptionen und -Bearbeitungen ist das Quintetto Astor Piazzolla heute der wahre Hüter des Erbes. Zwölf ausgewählte Kompositionen Piazzollas erklingen hier in kompromissloser Meisterschaft. Das Ensemble glänzt durch Virtuosität und Präzision, auch in den technisch raffiniertesten und rasantesten Stücken wie Chin Chin, Milonga Loca und Fracanapa. In den improvisierten Passagen wissen die Musiker originelle Akzente zu setzen – auffällig der jazzaffine Pianist Cristian Zárate. Die Wahl der Tempi, die teilweise von Piazzollas Versionen leicht abweichen, überzeugt. Alle Details der Ausführung sind stimmig – bis hin zu den Kratzrhythmen und Glissandi der Violine. Fast jedes von Piazzollas Stücken kommt dabei als eine Art von Miniatur-Concerto daher, mit Brüchen in Tempo und Ausdruck. Auch aufnahmetechnisch klang Piazzollas Musik selten überzeugender als hier.

Hans-Jürgen Schaal