Balakauskas, Osvaldas

Retrospective – David Geringas plays Osvaldas Balakauskas

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Profil/Edition Günter Hänssler PH14004
erschienen in: das Orchester 07-08/2014 , Seite 82

Zu Zeiten, da die westliche Avantgarde in der Sowjetunion als „degeneriertes Gesicht des verrotteten Kapitalismus“ galt, fand Osvaldas Balakauskas in Kiew einen Lehrer, der es duldete, wenn seine Eleven Partituren und Schallplatten aus Polen studierten. Heute zählt er zu den führenden Köpfen der litauischen Musikkultur. Von 1988 bis 1992 und 1994 bis 2006 leitete er den Fachbereich Komposition an der Akademie für Musik und Theater in Vilnius. Dazwischen wirkte er als Botschafter seines Landes in Frankreich, Spanien und Portugal – nach fünfzig Jahren Fremdherrschaft.
„Als Komponist habe ich mir immer erlaubt, frei zu sein“, sagt er rückschauend. Weder unterwarf er sich der Nomenklatura noch dem (westlichen) Gebot, unausgesetzt Neues zu erfinden. „Immerwährende Evolution schafft kein Klima für Meisterwerke.“ Statt dessen entwickelte er ein eigenes Kompositionssystem – wie Schönberg, Hindemith oder Messiaen. Aus der chromatischen Tonleiter gewann er zwölf diatonische Modi, die es ihm ermöglichen, innerhalb serieller Strukturen tonale Beziehungen herzustellen. Seine Rhythmen orientieren sich am Jazz und den „variablen Metren“ Boris Blachers. Das Verhältnis der Tondauern entspricht oft mathematischen Proportionen (wie der Fibonacci-Reihe).
Gleichfalls in Litauen beheimatet, ist der in aller Welt geschätzte Cellovirtuose David Geringas mit der Musik seines Landsmanns bestens vertraut. Der Titel seiner jüngsten CD – Retrospective – David Geringas plays Osvaldas Balakauskas – ist durchaus wörtlich zu nehmen. Beide haben ein Alter erreicht, in dem man dazu neigt, Rückschau zu halten und die Ernte des Lebens einzufahren. Wenn also jemand berufen ist, die Cellowerke von Balakauskas einzuspielen, dann er. Alle Stücke seines fesselnden Re-
citals sind ihm gewidmet oder wurden, neugefasst, von ihm uraufgeführt.
Es beginnt mit Betsafta 2 für Solocello, zwei Violinen, Violoncello und Klavier (2009). Der aramäische Titel bedeutet „Zusammenleben“. Zu Sowjetzeiten in der litauischen Freiheitsbewegung aktiv, mag sich der Komponist nicht damit abfinden, dass das Gesetz des Stärkeren die Welt regiert. Doch ist seine Musik kein Aufruf zum Widerstand, sondern (mit Ernst Bloch) „Vorschein einer human-vollkommenen Welt“. Retrospective 2 für Cello und Klavier (1994) klingt sehr verhalten und in sich gekehrt – trotz einiger virtuos ausgreifender Episoden. Unbegleitete, pausenzerklüftete Cellophrasen schaffen eingangs eine Atmosphäre, die das ganze Stück bestimmt. Ludus Modorum (Spiel der Arten, Maße, Mengen, Takte, Melodien…) für elektrisches Cello und großes Ensemble (1972, rev. 2002) entfaltet ein multiples Wechselspiel in drei Sätzen. Dazu benutzt Geringas
ein sogenanntes Silent Cello von Yamaha, das sich wie gewohnt bespielen lässt. In Dal vento (Aus Wind, 1999) verbinden sich „dodekatonale“ Modi einmal mehr mit einer klassischen Form, hier der Sonate. In Bop-art für Cello und Klavier (1972, rev. 1995) nutzt Balakauskas eigene, dem Bebop entlehnte Themen als Elemente für seine Tonreihen. Ihnen entspringen die Klangzellen des Klaviers, während das Cello über das Originalthema improvisiert. Wozu sich noch ein Jazz-Schlagzeuger einmischt. Ein musikantisches Gipfeltreffen oberhalb der Genregrenzen.
Lutz Lesle