Jacobs, René/Silke Leopold

René Jacobs im Gespräch mit Silke Leopold

"Ich will Musik neu erzählen"

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter/Henschel, Kassel/München 2013
erschienen in: das Orchester 02/2014 , Seite 65

Dies ist ein ganz besonderes Buch, ein Buch in Dialogform – eines für Kenner und Liebhaber, für Fachleute und Laien oder eines, um Karl Kraus zu zitieren, dem „nur der geschulte Leser gewachsen ist“. Hier unterhalten sich zwei Experten auf höchstem Niveau im weitesten Sinn über das Thema „Alte Musik“: René Jacobs, der Praktiker, und Silke Leopold, die Theoretikerin. Leider erfährt man über diese international anerkannte Musikwissenschaftlerin und Ordinaria an der Universität Heidelberg nur auf dem Buchrücken, dass sie Barockexpertin sei. Schade. Dabei ist sie es, die den Rahmen vorgibt: Zu Beginn eines jeden der vier Großkapitel mit zahlreichen Unterabteilungen stellt sie einen einführenden Artikel voran, und dem Leser sei empfohlen, diese hochinteressanten, kenntnisreichen Essays zuerst zu lesen.
Stationen einer Karriere bei René Jacobs: Sängerknabe in seiner Heimatstadt Gent, Studium der Altphilologie, Lehrer für Griechisch und Latein – was ihm später bei seinen Recherchen in den verschiedensten Archiven und Bibliotheken von großem Nutzen sein sollte –, zehn Jahre lang begehrter Altus und schließlich weltweit gefragter Dirigent, der als Autodidakt eher durch Zufall zum Dirigieren kam. Beim ersten Versuch sang er außerdem die Hauptpartie in Cestis L’Orontea. Der Entdecker unbekannter Barockopern, die er zum praktischen Gebrauch eingerichtet, teils instrumentiert oder auch ergänzt hat, ist inzwischen 67 und hat sein Repertoire zur Klassik, zu Opern von Mozart und Haydn und zur Sinfonik hin erweitert.
René Jacobs ist einer, der zu den Quellen geht, Silke Leopold ist eine, die die Quellen kennt, und so ergibt sich eine lebhafte Unterhaltung. Scheinbar leichthin geplaudert, lotet sie dennoch einen Bereich bis in seine Tiefen aus, gibt einen großen Überblick, aber fördert auch eine Fülle von Detailwissen zutage. Was ist eigentlich „Alte Musik“ – zentrale Frage, die im Dialog der beiden Experten umfassend durchgearbeitet wird. Kleine und große Themen kommen zu Sprache – warum Altstimmen androgyn wirken, welche Besetzungprobleme Bach hatte, die Doppelbödigkeit der Zauberflöte, die Kinder und Erwachsene sie so grundverschieden erleben lässt, und vieles mehr. Dabei stehen die Gesprächspartner einander an
Gelehrsamkeit nicht nach.
Ob als durchgehende Lektüre oder neugierig Stichworte aufsuchend, überall gibt es Interessantes zu entdecken. Wie ein roter Faden zieht sich ein Spezialthema durch diese Erörterungen: das Rezitativ. Wer einmal erlebt hat, wie akribisch Jacobs mit seinen Sängern diese oft so nachlässig
behandelten Zwischenspiele ausarbeitet, der weiß, wie sehr ihn diese Frage umtreibt. So hat er herausgefunden, vor allem aus alten Textbüchern, dass sie meist in Versform geschrieben, als Dichtung zu verstehen und rhythmisch exakt, wie vom Komponisten notiert, zu interpretieren sind. Dabei geht er zurück bis auf das Vorbild Shakespeare.
Wer sich für die Musik vergangener Zeiten interessiert, den erwartet ein exquisites Lesevergnügen dieser ebenso unterhaltsam wie tiefgründig geführten Gespräche in einem der originellsten Bücher der Saison. <
Ursula Klein