Tormis, Veljo
Reminiscentia
Das letzte Schiff (Valse triste), für Streichorchester und Percussion, Partitur
Allein der Titel Das letzte Schiff assoziiert Bedrohliches, Leidvolles, Zeitnahes, Eilendes, Verzweifeltes, unwiederbringlichen Abschied so als ob wir Angst haben müssen, etwas zu verpassen. Oder wenn wir beispielsweise im Kino endlich begreifen, dass die Trilogie Der Herr der Ringe mit der Ausfahrt des letzten Schiffes nun wirklich vorbei ist.
1981 hatte der 1930 im estnischen Kuusalu geborene Veljo Tormis einen vierstimmigen Chorsatz über einen estnischen Originaltext von Juhan Smuul für Männerchor mit dem Titel Viimane laef geschrieben. Der deutsche Text nach Hanna Helling beginnt mit: Wenn ein Schiff einmal trägt meinen Namen, ist mein Leben schon lange vorbei
Es soll in Estland eine schöne Sitte sein, Schiffe nach verstorbenen Schriftstellern zu taufen und diese damit zu ehren. Indem die Schiffe auf den Weltmeeren fahren, sollen sie symbolisch die Gedanken der Dichter in die Welt tragen. Elf Jahre nach der Vertonung erschien die Komposition 2002 in Druck.
Erst jüngst im Jahr 2009 bearbeitete Tormis das Chorwerk für Streichorchester mit zwei Violinen, Viola, Violoncello und Kontrabass sowie großer Trommel mit Becken als eine eigene Reminiszenz um. Es ist zunächst eine nahezu notengetreue Adaption des Chorsatzes von den intensitätsreichen Oktavverdoppelungen und Doppelgriffen bzw. Stimmenteilungen mal abgesehen. Sogar die Taktzahl ist identisch, der Mittelteil ist jedoch von Moderato in Allegro mit genauer Metronomangabe in der Instrumentalversion geändert worden. Hier brauchte Tormis nicht auf eine gute Textverständlichkeit Rücksicht zu nehmen und konnte seine Valse triste wie einst Jean Sibelius mit fast wirbelnder Tanzwut nach vorne treiben. Hier löste sich Tormis außerdem von dem strengen Chorsatzmodell, die Adaption wird zur echten Reminiszenz, wandelt sich hier wie in einer Metamorphose zum Instrumentalstück, indem er zuerst dem Bass die Möglichkeit gibt, mit seinen bewegenden Impulsen auf erster Zählzeit einen Instrumentalwalzer zu entfachen. Später übernehmen zunächst Viola (T. 56), dann das Violoncello (T. 67), gefolgt wiederum von der Viola (T. 82) die Gesangparts und singen die Soli ohne Worte auf ihre ganz spezifische Weise. Die dynamisch harten Einwürfe, T. 57 ff., bedürfen immer weniger eines Texts, emanzipieren sich zu einem eigenständigen Akkompagnement.
In diesem schnellen Mittelteil gesellen sich die beiden Perkussionsinstrumente dazu (ab T. 93), wobei die große Trommel lediglich das Walzer-Grundmetrum auf der ersten Zählzeit verstärkt, das Becken mit einigen gemütlichen Tsching kristallin den Trommelschlag kommentiert, hernach es mit einem leisen Wirbel lediglich als Teppich unter dem letzten Streicheraufbäumen glänzt. Nach Takt 139 scheint das Schiff in den Hafen zurückzukehren, es ist alles wie am Anfang: Der fast streng homofone Chorsatz nimmt das sehnsüchtige Thema nochmals auf. Mit einem Flageolett im Kontrabass verflüchtigt sich dieses Stück wie ein Gedanke in den Äther des Wunderbaren.
Werner Bodendorff