Walter, Bruno

Quintett

für zwei Violinen, Viola, Violoncello und Klavier (1904), Partitur/Streicherstimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Universal Edition, Wien 2012
erschienen in: das Orchester 09/2013 , Seite 75

Auch wenn die Rolle des Dirigenten als „Pultstar“ zur vorletzten Jahrhundertwende in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit schon ganz klar ausgeprägt war, so sahen sich doch die wenigsten der durchaus weltberühmten Orchesterleiter vom Rang eines Gustav Mahler am Ende des 19. oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts als rein wiedergebende und interpretierende Künstler. Gustav Mahler selbst ist ja heute im allgemeinen Bewusstsein – im Gegensatz zur Rezeption zu seinen Lebzeiten – ganz eindeutig der Maßstäbe setzende Komponist; vom Dirigenten Mahler spricht heute höchstens noch die Musikwissenschaft. Bei Bruno Walter, einem frühen Streiter für das sinfonische Werk seines Freundes Gustav Mahler, scheint sich die Sache genau andersherum zu verhalten. Dies wohl auch aufgrund der Tatsache, dass der sechzehn Jahre Jüngere ungleich viel älter geworden ist, aber bereits viele Jahrzehnte vor seinem Tod mit dem Komponieren aufhörte.
Liegen vom Dirigenten Bruno Walter zahlreiche Tondokumente vor, so ist der Komponist Bruno Walter im heutigen Musikbetrieb ein fast unbeschriebenes Blatt. Ganz vereinzelt gibt es Aufführungen seiner großen d-Moll-Sinfonie oder seines deutlich umfangreicheren Kammermusikschaffens. Entstanden sind diese Werke fast ausschließlich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, mithin also zu einer Zeit, in der in Bruno Walters Umfeld ganz eindeutig Gustav Mahler die beherrschende Figur war. Und so wundert man sich beim ersten Blick in die Partitur des Klavierquintetts in fis-Moll auch nicht, eine ungeheure Menge von Vortragsbezeichnungen zu finden, die einen an Mahlers Sinfoniepartituren erinnern.
Bruno Walters Klavierquintett, das jetzt in einer beeindruckenden Erstausgabe durch die Universal Edition vorgelegt wurde, ist ein umfangreiches, sich einer ausufernden, spät(est)romantischen Tonsprache bedienendes viersätziges Werk, das zu Zeiten seiner Uraufführung im Jahr 1905 als Maßstab setzend und durchaus modern galt. Was die aufführungstechnischen Anforderungen angeht, konnte der Komponist gleichsam aus dem Vollen schöpfen, war sein Quintett doch dem damals berühmtesten Streichquartett der Welt, dem Rosé-Quartett, gleichsam auf den Leib geschrieben. Und Bruno Walter selbst, als Pianist im damaligen Musikleben ebenfalls präsent, war der erste Interpret des durchaus zentralen Klavierparts.
Die vier Sätze – in den Binnenabschnitten sind dies ein intensiv strömendes Andante und ein geheimnisvolles Scherzo, die von zwei schnellen, vielgliedrigen Abschnitten gerahmt werden – versieht Bruno Walter mit immer wieder großartigen klanglichen und motorischen Steigerungen. Dazu erschaffen weit ausgreifende Melodiebögen und bisweilen straffe rhythmische Konturen einen lebhaften spätromantischen Kosmos, der an vielen Stellen trotz der Beschränkung auf fünf Instrumente weit in die sinfonische Musik hineinweist.
Daniel Knödler