Hammerschmidt, Wilke Peter
Potenziale der professionellen Dirigentenausbildung
Eine kritisch-konstruktive Untersuchung am Beispiel Deutschlands und Finnlands, Forum Musikpädagogik, Bd. 88
Dass die künstlerische Erziehung von Orchestermusikern in Deutschland einen hohen Stand erreicht hat und mehr und mehr herausragende Dirigenten fehlen, stellte Kurt Masur vor acht Jahren fest; während nach der deutschen Vereinigung ein knappes Fünftel der Kulturorchester fusioniert oder wegrationalisiert wurde, stieg die Zahl der Dirigierstudenten um ein Viertel; bei internationalen Dirigierwettbewerben haben sich in den vergangenen Jahren drei Viertel der in Helsinki Studierenden und ein knappes Fünftel der in Deutschland Studierenden beworben.
In dem durch solche Informationen flankierten Problemfeld bewegt sich die vorliegende Arbeit, deren Verfasser sich durch langjährige Mitarbeit im Dirigentenforum des Deutschen Musikrats und gründliche Recherchen in Helsinki eine enorme Materialgrundlage besorgt und diese methodisch sauber und anschaulich aufbereitet hat. Er analysiert die verschiedenen, in Deutschland stark differierenden Ausbildungsgänge und ‑konzeptionen, befragt Lehrende und Studierende in wohlüberlegter und statistische Fehlschlüsse ausschließender Weise (die Fragebogen sind im Anhang wiedergegeben), wertet die Ergebnisse behutsam und umsichtig aus und gibt in den letzten Kapiteln gut fundierte Empfehlungen.
Er hatte mit mehreren Schwierigkeiten zu tun einer großen, unter diversen Gesichtspunkten aufzuschlüsselnden Materialfülle; dem Verdacht, einer Branche Ratschläge erteilen zu müssen, in der er selbst nicht tätig ist; und durchsichtige Systematik in einem Bereich zu etablieren, der stets neu zu fragen Anlass gibt, was lehrbar sei und was nicht. Furtwängler hat in einem Gespräch nicht stolz gestanden, sich nie überlegt zu haben, was seine linke Hand beim Dirigieren tue.
All dem begegnet der Verfasser mit jener intellektuellen Redlichkeit, die ihn, so lange es irgend möglich ist, draußen hält und die Fakten für sich sprechen lässt. Demgemäß handelt es sich bei den abschließend gegebenen Empfehlungen weniger um solche als um Ergebnisse, zu denen die Untersuchung folgerichtig gelangt. Nebenbei gibt sie einen Einblick in Situation und methodische Probleme des Dirigierunterrichts, wie man ihn so genau und umfassend sonst nirgends bekommt. Selbstverständlich trifft man auf altbekannte Probleme mangelnder Praxisbezug, die im Vergleich mit Helsinki geringen Möglichkeiten, mit Orchestern zu arbeiten, über die Musik hinausreichende Kenntnisse usw.
Hammerschmidts Diagnosen gehen übrigens nicht völlig eindeutig zugunsten der finnischen Talentschmiede aus. Dort wie hier hat man mit dem Problem zu tun, dass Dirigenten nie so fertig wie Instrumentalisten aus der Ausbildung entlassen werden können und dass die wünschbaren Qualifikationen stets das übersteigen, was eine Hochschule leisten kann. So läuft es, wie in den vielen Dirigier-Lehrbüchern, auch in dieser vorzüglichen Untersuchung auf gehäufte Optative hinaus sollte, müsste usw.
Obgleich manche Seiteneinsteiger zu widerlegen scheinen, dass eine lehrbare Grammatik des Dirigierens, ein Grundvokabular gestischer Verständigung nötig sei, gibt es genug Gründe, für einen u.a. so konkret institutionenbezogenen Problemkatalog dankbar zu sein.
Peter Gülke