Smolka, Martin

Poema de balcones

Rubrik: CDs
Verlag/Label: WERGO WER 7332-2
erschienen in: das Orchester 11/2016 , Seite 71

„Keine Revolutionen mehr in der Musik, bitte!“ Wie bitte? Martin Smolka, Autor des Manifests vom „un-gestimmten Komponisten“ (der Bindestrich ist original!), zog schon vor über zwanzig Jahren Konsequenzen aus dem Un-Verhältnis (auch dieser Bindestrich ist original) von Vokalmusik und Avantgarde. Letztere hatte sich bekanntlich nach dem Krieg die Instrumentalmusik vorgeknöpft. Was damit für Stimmen übrigblieb, stellte die überwiegend von (wenn oft auch sehr begabten) Amateuren bestrittene Chorszene und ihr Publikum vor unlösbare Herausforderungen; nicht zuletzt entfremdete diese ästhetische Moderne eine ganze Generation von medialen Multiplikatoren von der Chormusik und nährte bei ihr bisweilen erschreckend dumpfe Vorurteile.
Die Rettung kam um 1980 herum aus Skandinavien. Es war der damalige Südfunk-Chor, der kurzerhand den schwedischen Guru Eric Ericsson verpflichtete und unter seiner Leitung eine völlig neue Klang- und Chorkultur hoffähig machte. Dieses bleibende Verdienst bewahrte den in Stuttgart residierenden Chor nicht vor reduzierender Intendantenwillkür; das nunmehr noch 28 Planstellen umfassende SWR Vokalensemble blieb seither jedoch der Trendsetter in der deutschen Rundfunkchorlandschaft.
„Keine Revolution“ heißt bei dem 1959 geborenen Tschechen Smolka: Einfachheit, Illustration, Atmosphäre. Smolka nimmt den Chor als Kollektiv von singenden Stimmen ernst, fordert von ihnen aber (hier mit Hilfe von Marcus Creed) ein hohes Maß an Homogenität, Balance und Intonationsvermögen in klanglicher Hinsicht. Die Abfolge schwellender Akkorde vom Beginn der Poema de balcones auf Textfragmente von Federico García Lorca für zwei gemischte Chöre (2008) macht geradezu süchtig; die clusterartigen Gebilde sind – wie später auch in Salt and Sadness (2006) – in allen dynamischen Schattierungen hervorragend ausgehört, die Dynamik an sich perfekt gesteuert. Einzelne Wortfetzen in den Frauenstimmen schweben über den Klängen wie Vögel mit schwingenden Flügeln.
Die langen minimalistischen Ostinati, ein Stilmerkmal von Smolkas Musik, haben Kraft und Spannung; so in den Rahmensätzen von Walden, the Distiller of Celestial Dews (hier kommen wenige dezente Schlaginstrumente zum Einsatz) auf den bekannten Text von Henry David Thoreau, der Klangbilder aus der Natur geradezu herausfordert. Die selbst für Profis schwierige Kunst der Einstimmigkeit gelingt dem Chor perfekt und wohlklingend, ebenso raffinierte Akkordschichtungen und -ballungen, Annäherungen an die Welt des Geräuschs oder mikrotonale Kunstfertigkeiten. Nur so finden die Ideen des Komponisten klingenden Ausdruck. Einzig im letzten kurzen Walden-Abschnitt irritiert etwas ein in der Tiefe unscharf mitklingender Ton – Resonanzen im Studio, Anspannung oder Emotionen des Dirigenten? Dafür schreibt über Smolka und seine Musik (und die vertonten Texte) Thomas Meyer informativ im Beiheft. Revolution muss also wirklich nicht sein, um eine wunderbare CD zu produzieren!
Andreas Bomba