Grétry, André Modeste
Pierre Le Grand
Das Motiv des unerkannt unter seinen Untertanen umhergehenden Herrschers und das Motiv des zu höchsten Ehren erhobenen Mädchens aus dem Volke war einer der beliebten Komödienstoffe der Spätaufklärung. Es findet sich sogar noch in Lortzings Zar und Zimmermann. Schon André Modeste Grétry hat gemeinsam mit Jean-Nicolas Bouilly gespickt mit tagesaktuellen Anspielungen 1790 Pierre le Grand an der Opéra comique herausgebracht. Anders als in Donizettis Borgamostro di Saardam und Lortzings Zar und Zimmermann spielt die Oper bei Grétry in Russland: Peter der Große (mit dem Ludwig XVI. gemeint war) wird als mustergültiger Herrscher gezeigt, der selbst Hand anlegt, anstatt wie andere Könige das Staatsvermögen auf dem Thron zu verprassen. Zimmerleute bauen das erste Schiff auf russischem Boden unter Leitung ihres Kaisers.
Bouilly lässt die Dörfler Dialekt sprechen, und zwar den der Normandie, die als besonders königstreu galt. Die Lehre des Stücks an die Herrscher hieß, ihre Aufgabe verantwortungsvoll zu erfüllen; an das aufständische Volk, sich seinem Herrn und Landesvater gehorsam zu erweisen. Der Glaube an patriarchalische Hierarchien beseelt das Stück, einfache Melodien bringen diesen Glauben zum zauberhaften Erklingen. Ein frommer Wunsch aus dem Geist der Aufklärung, wie der kluge Boris Kehrmann im außergewöhnlich aufschlussreichen Booklet der DVD bemerkt.
Anlässlich des Jubiläums der Stadtgründung von St. Petersburg vor 300 Jahren hat die Moskauer Helikon-Oper die Komödie in drei Akten ausgegraben, stark gerafft und in der zweiten Fassung der Oper (französisch gesungen mit russischen Dialogen) herausgebracht. Es ist eine, mit Verlaub gesagt, sehr konventionelle Inszenierung in historischen Kostümen vor maritimen Bildern: barocke Kostüme, gemalte Segelschiffe, Klettergerüste, konventionelle Gesten und Gänge auf dem Niveau einer Off-Szenen-Produktion. Der Regisseur nimmt in einigen Anspielungen Bezug auf das idealisierte Bild, das von der Stadtgründung im Laufe der Jahrhunderte entworfen wurde vor allem in der Schlussszene, wenn Peter zum Denkmal seiner selbst erstarrt: zum ehernen Reiter, den Katharina die Große errichten ließ.
Die Produktion ist weder sehens- noch hörenswert, obgleich manche nette Stimme singt und Chor und Orchester der Helikon Oper unter Sergey Stadler ihr Bestes geben. Wenn die Wiederbegegnung mit diesem Werk einer Offenbarung gleichkommt, dann nur des Booklet-Texts von Boris Kehrmann wegen, der die Entstehungsgeschichte und Bedeutung des Stücks wissenschaftlich akribisch recherchiert hat und das an Informationen nachliefert, was auch die besten Nachschlagewerke unterschlagen, aussparen oder unzureichend darstellen. Das Stück ist famos. So absurd es klingt: Man verdankt diese Einsicht nur dem Booklet, das in diesem Fall lohnender ist als die dokumentierte Aufführung.
Dieter David Scholz