Bryars, Gavin

Piano Concerto (The Solway Canal)

for solo piano, male choir and orchestra, Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, London 2010
erschienen in: das Orchester 11/2013 , Seite 72

Kann man noch Sinfonien schreiben oder Streichquartette? Kann man nicht, denn auch Formen und Gattungen haben ihre Geschichte. Wer es dennoch tut, schreibt eigentlich etwas anderes – eine freie Form zumeist, oder eine Metamusik, die mit historischen Implikationen spielt, oder einfach eine Replik.
Auch Gavin Bryars’ in den Jahren 2009 und 2010 entstandenes Piano Concerto ist, anders als der Name vermuten lässt, kein Klavierkonzert, sondern eher eine lyrische Fantasie, wohlklingend, träumerisch, meditativ. Der Pianist spielt darin die Rolle des Antivirtuosen, dem Bryars konsequent jede titanische Geste, jedes Auftrumpfen, jede konzertante Figur verweigert. Stattdessen webt der Solist, wenn man ihn noch so nennen möchte, an einem ausgedehnten Klangteppich mit, mit langsam sich entfaltenden Dreiklangsbrechungen, schlichten zweistimmigen Linien, chopinesken Arabesken, chromatischen Läufen, Pendelfiguren, hingetupften Schleifern und anderem eher atmosphärisch wirkenden Material.
Partner des Pianisten sind ein Orchester mit einer dunkel gefärbten Holzbläsergruppe (neben zwei Flöten und einer Klarinette noch Bassklarinette, Fagott sowie Kontrabassfagott), Blechbläser, Streicher, Harfe und zwei Pauken. Hinzu kommt eine Schlagzeugbesetzung, die mit Glockenspiel, Vibrafon, türkischen Hängebecken (suspended cymbals), Tamtam und Basstrommel zwei Spieler verlangt. Dritter Akteur ist ein vier- bis sechsstimmiger Männerchor, für den sich Bryars eine Stärke von achtzehn Sängern wünscht.
Fließt die Musik im Klavier und im Orchester weitgehend ohne greifbare Motivik dahin, so bietet die Chorpartie mehr rhythmisches und melodisches Profil, ohne damit allerdings zu einem kontrastierenden Widerpart zu werden. Ähnliche Besetzungen kennt man aus Beethovens Chor­fantasie und dem letzten Satz aus Busonis Klavierkonzert, ohne dass darüber hinaus die Werke vergleichbar wären. Vertont hat Bryars zwei Gedichte des 2010 im Alter von 90 Jahren verstorbenen schottischen Dichters und Literaturkritikers Edwin George Morgan. The Solway Canal dient dem Werk als Untertitel und fängt die Stimmung einer Bootsfahrt durch schottische Landschaft im nebligen Dunst eines Apriltages ein. A Place of Many Waters ist eine Ode an die ungezähmte Kraft und Wildheit des Meeres.
Bryars’ Musik umhüllt diese Texte mit einem klanglichen Fluidum, das Stimmungen, Assoziationen, Gefühle einfängt. Er arbeitet mit mehr oder weniger dichten Klangflächen, die sich immer wieder in repetitive
Figurationen auflösen, zu zartem Gespinst ausdünnen. Seine Musik isttonal geprägt, verweigert sich aber klarer Grundtönigkeit, bleibt vielmehr schwebend, indem sie oft Dreiklänge subtil überblendet. Die Geschichte schaue einem immer über die Schulter, sagte Bryars in einem Interview. Und anders als weiland Schubert mit ängstlichem Blick auf Beethoven empfindet der Schotte die Vergangenheit nicht als Last, sondern als eine Art Nährboden, auf dem sich musikalisches Denken und Fühlen überhaupt erst entwickeln kann. Deshalb ist ihm das musikalische Erbe auch kein düsterer Schatten, sondern orientierendes Licht: „Ich liebe es, im Licht der Vergangenheit zu schreiben.“
Mathias Nofze