Chopin, Frédéric

Piano Concerto No. 2 / Ballade No. 4 / Berceuse / Polonaise héroique

Nelson Freire (Klavier), Gürzenich-Orchester Köln, Ltg. Lionel Bringuier

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Decca 4785332
erschienen in: das Orchester 06/2015 , Seite 79

Der brasilianische Pianist Nelson Freire, der im vergangenen Jahr seinen 70. Geburtstag feierte, zeigt mit seiner neuesten Aufnahme, dass er noch lange nicht zum alten Eisen gehört. Die bei Decca erschienene CD enthält neben der Live-Einspielung des zweiten Klavierkonzerts von Frédéric Chopin mit dem Kölner Gürzenich-Orchester unter der Leitung von Lionel Bringuier auch die Schlüsselwerke seines romantischen Repertoires, mit denen er in den 1960er und 1970er Jahren große Erfolge feiern konnte. Danach zog er sich sukzessive aus dem Konzertleben zurück.
Schon Freires erste Schallplattenaufnahme, die er im Alter von zwölf Jahren machte, war ein Chopin-Rezital. Dieser Komponist steht neben Schumann im Mittelpunkt seines Repertoires, wie die jüngsten CD-Veröffentlichungen bezeugen. Mit Chopins zweitem Klavierkonzert hat der Pianist nun eines seiner Lieblingswerke aufgenommen, das für ihn aber auch „das schwierigste aller Klavierkonzerte“ ist. „Ich habe“, bekennt Freire, „das 1. Konzert in den 60er und 70er Jahren gespielt, doch irgendwie habe ich eine viel tiefere Beziehung zum zweiten. Ich bin gerade von diesem Konzert immer besonders berührt.“
Das Gürzenich-Orchester Köln setzt den anspruchsvollen Orchesterpart souverän um, der Dirigent Lionel Bringuier achtet neben der genauen Balance in den Tutti stets auf das Spiel des Solisten und auf die vielen kleinen Details. Zugleich legt das Orchester dem Solisten einen überaus weichen Klangteppich aus, auf dem sich der virtuose Brasilianer wunderbar bewegen kann.
Besonders aber die Solowerke Chopins zeigen die Ausnahmestellung des Pianisten. Diese Werke hat Nelson Freire laut Beiheft bis auf die vierte Ballade ziemlich spontan für die Aufnahme zusammengestellt. Seine Interpretation zeichnet sich durch eine faszinierende rhythmisch-strukturelle Übersicht aus, die aber dennoch tiefgründig ist und zeigt, dass der Pianist, betrachtet man ältere Aufnahmen, deutlich an Ausdruck und Reife gewonnen hat. Freire nimmt sich immer Zeit, den einzelnen Klängen nachzulauschen, dadurch wirkt sein Spiel unendlich frei und natürlich. Vielleicht ist sein Schlüssel zum Erfolg die nach eigener Aussage stete Einhaltung der Fingersätze des Komponisten, sein Gespür für Phrasierungen, das tiefe Verständnis der Rubati in Chopins Musik und die Tatsache, dass er stets folgendes Bild im Kopf hat: Ein Baum, der sich im Winde wiegt, doch stets verankert bleibt, da er tiefreichende Wurzeln besitzt. So sagt er über Chopin: „Chopins Kompositionen sind sehr klassisch – sie sind sehr rein, doch gleichzeitig besitzen sie Feuer.“
Nelson Freire überträgt dieses Feuer auf eine Weise, dass man den Eindruck gewinnen kann, seine Karriere habe gerade erst begonnen. Man kann sich nur auf weitere Einspielungen des Pianisten freuen, die da in nächster Zeit kommen mögen.
Mano Eßwein