Peter Iljitsch Tschaikowsky

Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 35

Bogenstriche und Fingersätze von Philip A. Draganov, Klavierauszug von Edward Rushton

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Gilgenreiner
erschienen in: das Orchester 04/2018 , Seite 62

Dass praktische Notenausgaben dem jeweiligen Zeitgeschmack unterliegen, wird deutlich, wenn man sich die Mühe macht, unterschiedliche Editionen einer Komposition miteinander zu vergleichen. Selbst die oftmals mit dem Schein von Objektivität umgebenen, weil nach strengen wissenschaftlichen Kriterien erstellten Urtextausgaben der vergangenen Jahrzehnte ordnen sich, wie die von den Herausgebern jeweils vorgenommenen Fingersatzbezeichnungen verdeutlichen, diesem Trend unter.
Auf umsichtige Weise steuert Philip A. Draganov in seiner neuen Edition von Tschaikowskys Violinkonzert solchen Tendenzen entgegen, indem er von vornherein die subjektive Komponente von Bogenstrichen und Fingersätzen akzentuiert. Hierzu hat er, sowohl die eigene Spielpraxis berücksichtigend wie auch den Rat führender Pädagogen und Solisten einbeziehend, im Violinpart der Edition eine ganze Reihe unterschiedlicher Spielvarianten gesammelt, die er, versehen mit ausführlichen Kommentaren und Fußnoten, den Studierenden zur Wahl stellt.
Die Idee dahinter ist ebenso einfach wie einleuchtend, da die Bevorzugung bestimmter Realisierungsmöglichkeiten letztlich – wie der Herausgeber in seiner Einleitung hervorhebt – von der individuellen Anatomie der Hände, dem zur Verfügung stehenden Instrument sowie auch vom persönlichen Geschmack und individuellen Empfinden der Studierenden abhängt.
Ein einfaches, aber dennoch für die gesamte Interpretation des Werks zentrales Beispiel ist die Wiedergabe des Kopfsatzthemas: Wird man es eher als grüblerisch empfinden, dürfte man einen Fingersatz auf der G-Saite vorziehen; will man hingegen einen fröhlicheren, strahlenderen Charakter erzielen, liegt es na­he, so rasch wie möglich die D-Saite einzubeziehen. Beide Optionen sind keine isolierten Probleme, sondern ziehen Konsequenzen für die übergreifende Lesart des Werks nach sich und sollten sich daher auf nachfolgende interpretatorische Entscheidungen auswirken.
Draganovs differenziert ausgezeichneter Notentext macht es Studierenden nun möglich, unterschiedliche Varianten zu durchdenken und somit eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Konzert vorzunehmen, die sich weit von der – im Hochschulstudium leider immer noch anzutreffenden – Forderung nach einer Rekapitulation von Fingersätzen berühmter Solisten distanziert.
Hinzu kommt, dass die Ausgabe auch, ganz im Sinne einer wissenschaftlich-kritischen Ausgabe, auf der Basis unterschiedlicher Quellen erstellt wurde. So hat der Herausgeber beispielsweise nicht nur die höchstwahrscheinlich vom Komponisten gemeinsam mit dem Geiger Josef Kotek 1878 erstellte Violinstimme der autografen Partitur, sondern auch den 1880 gedruckten, von Tschaikowsky nochmals überarbeiteten Solopart zu Rate gezogen. Das Ergebnis ist eine variantenreiche Edition, die eine völlig neue, behutsam abwägende Art der Annäherung an dieses zentrale Werk der Violinliteratur ermöglicht.
Stefan Drees