Página Esquecida

Portugiesische Musik für Violoncello und Klavier

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Dreyer Gaido 21054, 2 CDs
erschienen in: das Orchester 09/2010 , Seite 67

Im Jahr 1950 hatte Fernando Lopes-Graca, einer der neun Komponisten, denen wir hier begegnen, ein Cellokonzert für die berühmte portugiesische Cellistin Guilhermina Suggia projektiert. Aus dem unvollendeten Werk ging ein einsätziges Stück für Cello und Klavier hervor, das den Titel Página Esquecida (Vergessene Seite) trägt. Dass die vorliegende Produktion diesen Werktitel als Motto übernimmt, verweist doppeldeutig auf die Tatsache, dass portugiesische Musik in unserer mitteleuropäischen Wahrnehmung praktisch nicht vorkommt. Im Bestreben, dies zu ändern, haben Bruno Borralhino und Luísa Tender bedeutende Werke portugiesischer Komponisten zu einer Doppel-CD zusammengestellt, die großes Hörvergnügen bereitet, darüber hinaus dank eines ausführlichen Booklet-Texts sehr informativ ist und etwaige Vorurteile, am Rande Europas könne künstlerisch nur „Peripheres“ entstehen, eindrucksvoll wegwischt.
Durch die Biografien dieser Komponisten zieht sich freilich das verbindende Element längerer Studienaufenthalte im Ausland, namentlich in Paris, aber auch in Deutschland, Österreich und Italien. Im Anschluss an ein Grundstudium in Lissabon oder Porto zu den musikalischen Schaltstellen Europas zu reisen und dort die professionelle Ausbildung zu vervollkommnen, war geradezu Voraussetzung, um im eigenen Land entsprechende Akzeptanz zu erhalten. So ist dieser Streifzug durch die portugiesische Musik des 20. Jahrhunderts zugleich eine Reflexion der großen europäischen Strömungen: Debussy, Ravel und Dukas haben Spuren hinterlassen in den Werken von Armando José Fernandes, Luís de Freitas Branco und Cláudio Carneyro, während António Vitorino d’Almeidas Musik Einflüsse der Schönberg-Schule aufweist und die Sprache Jorge Peixinhos (er war Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik) in die Avantgarde-Idiomatik der 1970er und 1980er Jahre einzuordnen ist. Besonders eindrucksvoll der stilistische Sprung, den Joly Braga Santos innerhalb von dreißig Jahren vollzog: Beinahe spätromantisch, resultierend aus der Unmöglichkeit, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bereits den Duft der Moderne wahrgenommen zu haben, präsentiert sich Ária I (1946), während Ária II (1977) frei und undogmatisch aus dem Vokabular der Neuen Musik schöpft.
Dies alles wäre freilich nur Stoff für ein interessantes musikwissenschaftliches Referat ohne das bravouröse, fein abgestimmte Spiel des Duos Borralhinho-Tender. Auch diese beiden Musiker sind Internationalisten: Luísa Tender studierte zunächst in Porto, danach in England, Frankreich und den USA und arbeitet heute als Professorin in Portugal. Bruno Borralhinho führten seine Studienwege nach Berlin und Oslo, außerdem spielte er im Gustav Mahler Jugendorchester und ist heute Mitglied der Dresdner Philharmonie. Instrumentale und kammermusikalische Perfektion verbinden sich aufs Glücklichste mit echter Devotion für die Aufgabe, Portugals Musik vom vermeintlichen Rand des Geschehens in die Mitte zu rücken.
Gerhard Anders