Tüür, Erkki-Sven
Oxymoron / Salve Regina / Ardor / Dedication
Geradezu ideal passen sie zusammen, das Label ECM und dessen neue Platte mit Musik des estnischen Komponisten Erkki-Sven Tüür: Was des einen Firmenphilosophie ist, ist des anderen Ästhetik. Auch die Wirkungsstrategien ähneln sich. Nicht grundlos hat man die Edition of Contemporary Musik als musikalischen Kosmos gerühmt, der viele, selbst grundverschiedene Arten von Musik umschließt und der mit seinen Präsentationen Ohr und Auge zu faszinieren weiß. Die Musik von Tüür folgt quasi diesem exquisiten Konzept, um es gleichermaßen überzeugend und umfassend zu realisieren.
Allein im großen Ensemblestück Oxymoron, der Music for Tirol (2003), manifestiert sich facettenreich ein ganzes Schaffensprogramm: die Einheit des Gegensätzlichen, die Spannung von Polarität und Metamorphose, die visuelle Anregung (vereiste Felsen) und die assoziative Ausrichtung. Die Steuerung durch Zahlen-Codes (vektorielle Schreibweise) und die Freizügigkeit des Minimalismus. Naturton und rhetorische Figur. Der Drang in unerschlossene Räume.
Die Grundlegung dafür geschah nicht von ungefähr. 1959 geboren, gehörte Tüür als Zwanzigjähriger der progressiven Rock-Szene in Tallinn an. Der Freiheit des Improvisierens aber setzte er bald die Regel der Form entgegen. Und aus dem Wechselspiel divergierender emotionaler und intellektueller Energien entwickelte er eine originelle (eine paradoxe, wie er sie selbst am liebsten nennt) Klangarchitektur. Mit Flächen und Räumen, deren Dimensionen sich ändern. Mit Tonmaterial, dessen Konsistenz variiert. Mit Form- und Einsatzplänen, die Stimmen und Intervalle geradlinig oder wellenartig in verschiedenste Richtungen lenken. Mit tonal oder seriell geordneten Strukturen.
Das majestätische Panorama der Alpen und das Klangspuren-Festival in Schwaz evozieren in Oxymoron jene unmögliche Vereinigung von Extremen und Skalierungen, in der sich die bildhaften Eindrücke und Anregungen als flukturierende Aggregatzustände und Anordnungen des Tonmaterials niederschlagen. Farbige Schichten und feine Linien alternieren mit drängenden Rhythmen und angespannten Bewegungen. Aus dem Wechsel vertikaler und horizontaler Abschnitte entfaltet sich ein Spiel der Kräfte mit einem geradezu aggressiven Potenzial. Und dem grandiosen Gipfel folgt ein visionärer Schluss: Erst hier findet und gibt die Musik Ruhe für den weiten, freien Ausblick.
In Dedication für Violoncello und Piano (1990) wird die innige Melodik solange unterbrochen und verstört, bis die dynamische und motorische Aufladung in unentrinnbaren Bahnen verläuft und als Trauermusik endet das Gelegenheitsstück wird zum Mini-Drama. Das Salve Regina für Männerchor und Ensemble (2005), eine der ersten vektoriellen Kompositionen Tüürs und eines seiner zahlreichen religiösen Werke, erweitert die Strenge des Linearen zur Freiheit der Klänge. Unisono-Gesang und zweistimmiger Vokalsatz, Liturgie und das Ritual einer feierlichen Marienanrufung öffnen zunehmend einen scheinbar unendlichen Raum.
Und der Kontrast von virtuosem Spiel und atmosphärischer Klangkunst, von materialer Begrenzung und fantasiereicher Erfindung verleiht dem Konzert für Marimba und Orchester Ardor (2002) seine Ausdehnung und Spannung. Die Realisierung dieser Farbspiele und Klangkonzepte durch die estnischen Interpreten, allen voran das NYYD Ensemble mit dem Dirigenten Olari Elts, besitzt Spitzenniveau. Auch das ist ein Markenzeichen von ECM.
Eberhard Kneipel