Auerbach, Lera

Oskolki / Postludium/Postlude für Violine und Klavier

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Sikorski, Hamburg 2007
erschienen in: das Orchester 12/2007 , Seite 81

Ist sie nun eigentlich Komponistin, Pianistin oder Dichterin? Allem Anschein nach alles in einem (Cyril Scott lässt grüßen)! Lera Auerbach, geboren 1973 in Tscheljabinsk im Ural, sammelt Auszeichnungen wie andere Leute Briefmarken. 1991 wurde sie als Preisträgerin verschiedener Klavierwettbewerbe zu einer Konzertreise in die USA eingeladen und kehrte nicht mehr nach Russland zurück. Ihre weitere pianistische und kompositorische Ausbildung erhielt sie an der Juilliard School in New York und später an der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Nebenher studierte sie an der Columbia University Literaturwissenschaft. Sie trat als Pianistin in zahlreichen berühmten Konzertsälen der Welt – in New York, Chicago, Washington DC, Tokyo, München usw. – auf, spielte zusammen mit Gidon Kremer und seiner Kremerata Baltica in der Carnegie Hall in New York. Mindestens ebenso erfolgreich wie die Pianistin ist die Komponistin Lera Auerbach. Als „Composer in Residence“ wurde sie mehrfach von der Brahms-Gesellschaft Baden-Baden e.V. eingeladen, desgleichen von Gidon Kremer zum Festival nach Lockenhaus, wo nicht weniger als zwölf ihrer Kompositionen ihre Premiere erlebten. 2005 erhielt sie im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals den Hindemith-Preis, ein Jahr später den „Förderpreis Deutschlandfunk“. Eine eindrucksvolle Karriere also. Als sei das alles noch nicht genug, erweist sich Lera Auerbach auch als sehr erfolgreiche Literatin. Sie schreibt in russischer Sprache, veröffentlichte mehrere Bände Lyrik, zwei Romane, wurde 1996 von der Internationalen Puschkin-Gesellschaft zur Schriftstellerin des Jahres gewählt.
Als Komponistin sieht sich Lera Auerbach in der Tradition der virtuosen Komponisten-Pianisten der beiden vergangenen Jahrhunderte. Als Kind einer „postmodernen“ Generation zeigt sie keinerlei „tonale Berührungsängste“. Tonalität hat für sie nichts Rückwärtsgewandtes, sie ist zutiefst überzeugt, dass „man Tonalität […] nutzen kann, um neue Ideen auszudrücken oder um die Zeit auszudrücken, in der wir leben“ (Zitat nach Nicole Nelhiebel, Nordwestradio).
Bei Sikorski sind jetzt zwei ihrer Kompositionen für Violine und Klavier erschienen: Oskolki (Splitter), geschrieben 2001 für Gidon Kremer, und das zwei Jahre früher entstandene Postludium. Insbesondere den zehn kurzen Sätzen von Oskolki eignet eine sehr farbige, expressive Klangsprache, gelegentlich an Schnittke gemahnend. Vielfältig sind die kompositorischen Mittel, deren sich Lera Auerbach bedient. Tonales, häufig verfremdet durch kräftige Dissonanzen, steht neben frei atonalen Passagen, Pentatonik und Bass-Clustern; kadenzartige Improvisation der Violine kontrastiert streng metrisch gefasste Akkorde des Klaviers; es finden sich Glockenklänge (Nr. 4), Motorik (Nr. 6 und 10), Volksliedassoziationen (Nr. 7), vielfältigste Klangfarben und -mischungen beider Instrumente, von der Komponistin verwoben zu einem wirkungsvollen Ganzen. Das kurze Postludium aus dem Jahr 1999, eine Romanze in slawischer Tradition – hörbar ist hier Schostakowitsch, der Ziehvater –, erscheint mir im Vergleich konventioneller geraten.
Herwig Zack