Dieckmann, Friedrich
Orpheus, eingeweiht
Eine Mozart-Erzählung
Die Werkstatistik mit den Aufführungszahlen und Inszenierungen der deutschen Opernhäuser, die der Deutsche Bühnenverein alljährlich vorlegt, ähnelt, was die Vorhersagbarkeit der ersten Plätze anbelangt, den Wahlen in China: Alles andere als ein Platz auf dem Siegerpodest für Die Zauberflöte käme einer Sensation gleich. Die unangefochtene Spitzenposition von Mozarts letzter Oper in der Gunst des Publikums ist umso erstaunlicher, da die Handlung jede Forderung nach logischem Verlauf und Nachvollziehbarkeit mit einer Leichtigkeit zurückweist, die schon Generationen von Musikwissenschaftlern Kopfschmerzen bereitet hat.
Wer ist hier gut und wer ist böse? Ist der Zorn der Königin der Nacht über den Raub ihrer Tochter nicht allzu verständlich? Wirft eben diese Tat nicht doch einen Schatten auf Sarastro, den Herrn der Sonne? Macht man es sich nicht zu einfach, alle Schuld auf Monostatos abzuladen? Weshalb duldet Sarastro diesen Menschen in seinem Reich? Was befähigt ausgerechnet Tamino, der soeben angesichts einer Schlange in Ohnmacht gefallen ist, dazu, Pamina zu befreien? Die Liste der Fragen, die die Handlung der Zauberflöte hervorruft, könnte noch lange fortgesetzt werden
Friedrich Dieckmann hat bereits 1983 diese Fragen auf ganz eigene Weise zu beantworten versucht. In seiner Mozart-Erzählung Orpheus, eingeweiht lässt er Mozart eine Nacht lang mit seinem Logenbruder, dem Schauspieler Karl Ludwig Giesecke durchs nächtliche Wien streifen und über den Fortgang der ins Stocken geratenen Komposition an der Zauberflöte diskutieren. Gerade die Rolle der Königin der Nacht bereitet dem Komponisten Schwierigkeiten. Doch nicht nur in seiner schöpferischen Tätigkeit steckt Mozart in der Klemme, auch politisch und sozial steht seine Situation nicht zum Besten, seit Joseph II. tot ist und dessen Bruder und Thronfolger Leopold mit Mozart nichts mehr im Sinn hat. Der ehemals umschwärmte Hofkomponist ist gesellschaftlich kaltgestellt.
Dass das Mozart-Jahr Dieckmanns Kleinod in einer Neuausgabe der Insel-Bücherei wieder zum Vorschein gebracht hat, ist eine der positiven Auswirkungen des Jubiläums. In seiner äußerst dichten Erzählung malt Dieckmann, der von 1972 bis 1976 Dramaturg am Berliner Ensemble war und als Schriftsteller und Publizist in Berlin tätig ist, das funkelnde Bild einer langen Wiener Sommernacht mit Gesprächen über Freimaurertum, Politik und Mythologie an deren Ende für Mozart feststeht, wie es weitergeht mit dieser seltsamen Handlung
Tamino mit der Zauberflöte: Steht er nicht für Orpheus, der auf der Suche nach der Geliebten so Giesecke zu Mozart in die Mühlen der Einweihung gerät? Und die Königin der Nacht, wer ist sie anderes als Isis, des Osiris Schwester und Geliebte?
Giesecke sah ihn ratlos an: ,Wer soll das im Theater begreifen? ,Lieber mysteriös als platt, sagte Mozart pointiert. ,Nur das Rätselhafte ist anziehend. Wie Recht er doch hatte!
Rüdiger Behschnitt