Enjott Schneider

Orbe Rotundo. Leben, Magie, Tod

Sandra Moon (Sopran), Robert Sellier (Tenor), Todd Boyce (Bariton), Münchner Motettenchor, Moravská Filharmonie Olomouc, Ltg. Hayko Siemens

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Wergo
erschienen in: das Orchester 03/2024 , Seite 67

Als „Schwesterwerk“ zu den Carmina Burana von Carl Orff deklariert Enjott Schneider seinen Zyklus Orbe Rotundo über die fundamentalen Themen „Leben, Magie, Tod“. Allerdings ist es kein Imitat, vielmehr die Reaktivierung und Fortsetzung eines neomediävalen Klangmodells, wobei „die Musik in bordungestützter archaischer Tonalität verbleibt“, wie Enjott Schneider erläutert. Er hat andere und neue Texte aus der lateinischen Vulgata-Bibel, mittelhochdeutsche Lyrik von Oswald von Wolkenstein und Neidhart von Reuenthal sowie einige Zaubersprüche und Epitaphe vertont. In summa eine Verbeugung vor dem Original, ein szenischer Bilderbogen zum Jahreskreis und eine Hommage zum 50-jährigen Bestehen des Münchner Motettenchors.
Auch hier in prominenter Position der Libretto-Interpretation, wenn der Reigen hymnisch angekündigt und in skandierten Gesängen vorangetrieben wird. Perkussive Prosodie und Kontraste von profan-deftiger (paganer Ostera gewidmet), sakral-erwartungsvoller (Johannistag mit betendem Tenor und massivem Chor) sowie ängstlich-zaudernder Poesie (im wilden Hexensabbat mit Alarm-Flöte) sind wesentliche Formelemente, manchmal in orchestrale Opulenz gehüllt. Dazwischen metrisch raffinierte Tänze – zur Ernte gar eine epigonale Version des Säbeltanzes aus dem Khachaturian-Ballett Gayaneh – ein erotisch-frivoles Bariton-Trinklied und im Autumnus (Herbst) ein gefeierter „Deus magnificus“ (mächtiger Gott), wenn die Sopran-Nachtigall demonstrativ wonniglich singt. Als ob die mittelalterliche Welt eine Dauerfiesta quellender Vitalität gewesen wäre, trüben nur punktuell klagende Partien die Musik. Gerade der diesseits gewandten germanischen Frühlings- und Fruchtbarkeitsgöttin Ostera sind zwei Gesänge mit großem Chor und Solisten gewidmet, immerhin, nicht nur vom Namen her, ein provokanter Kontrapunkt zum christlichen Auferstehungsbekenntnis als Garant des Lebens im Jenseits. Dennoch erscheinen diese nebeneinander existierenden Prinzipien nicht in schroffer Rivalität, sondern ergänzen sich sinnvoll. Biblische Schöpfung, menschliches Begehr und Verlangen, die Wunder der Natur (Erde, Luft, Wasser, Feuer) und Illusionen der Magie (Brot aus schwarzer Hirse) fügen sich also zu einem klingenden Kaleidoskop, das zugleich sinnlich-verführend und spirituell-geladen ist.
Der Münchner Motettenchor, die Solist:innen und die Moravská Filharmonie Olomouc haben unter der souveränen Leitung von Hayko Siemens dem Orbe Rotundo bei dieser Live-Aufführung dramaturgisch prächtige Konturen gegeben, sodass dieses Carmina-Schwesterwerk für sich selbst Bestand haben kann.
Hans-Dieter Grünefeld