Saint-Saëns, Camille
Oratorio de Noël
Weihnachtsoratorium für Soli, Chor, Harfe, Orgel und Streicher. Neuausgabe nach den Quellen von Edward Blakeman, Partitur
Am ersten Weihnachtstag des Jahres 1858 führte der damals 23-jährige Organist der Pariser Église de la Madelaine sein zunächst sechssätziges Oratorium pro nocte Nativitatis Christi auf. Die Besetzung sah neben dem Solistenquintett und einem vierstimmigen Chor ein Streichquartett und Orgel vor. Das Prélude dans le Style de Séb. Bach entfaltet eine lyrisch-pastorale Stimmung im Spannungsfeld zwischen archaisierenden Stilmitteln, die tatsächlich viel weiter in vorbachische Zeiten zurückweisen, und einem romantischen Klangbild. Das offensichtliche Vorbild für die Gestaltung der Chorsätze war Palestrina. Auffällig ist, wie sehr der Komponist Rücksicht nahm auf die Leistungsfähigkeit wenig geschulter Kräfte. Die Singstimmen werden von den begleitenden Instrumenten weitgehend gestützt und geführt. Die Instrumentalstimmen bewegen sich im vokalen Duktus der Chorsätze.
Für spätere Aufführungen ergänzte Saint-Saëns das Werk in mehreren Schritten um vier Sätze, wobei er zwischenzeitlich mit zwei Harfen experimentierte. Die endgültige Fassung erweitert die Besetzung um eine Harfe und Kontrabass. Die hinzukomponierten Sätze stellen deutlich höhere, aber noch immer moderate Anforderungen. Thematische und harmonische Verknüpfungen stellen die Verbindung mit den Sätzen der Erstfassung her. Dem Benedictus ist eine Harfenstimme hinzugefügt, die jedoch durchweg mit der Orgel colla parte geführt ist. Selbstständig und charakteristisch tritt die Harfe in zwei der neu komponierten Sätze auf. In den späten 1860er Jahren erschien das Oratorio de Noël als op. 12 im Druck, nachdem es zuvor schon als Klavierauszug veröffentlicht worden war.
Eine Neuausgabe lässt zunächst keine wesentlich neuen Erkenntnisse erwarten, zumal das Werk bereits in zuverlässigen Editionen greifbar ist. Ein übersichtlicher, mit Taktzahlen und Orientierungsbuchstaben versehener Notentext lässt keine Wünsche an Praxistauglichkeit offen. Der große Vorzug dieser Ausgabe liegt in der Qualität des begleitenden Vorworts und des Revisionsberichts. Die Einordnung der handschriftlichen Quellen ist kompliziert, weil Elemente der verschiedenen Fassungen in mehreren Fällen zusammen überliefert sind. Dem Herausgeber ist es gelungen, den Sachverhalt klar und knapp darzustellen. Die unterschiedlichen Lesarten der Quellen werden aufgelistet und soweit erforderlich plausibel bewertet. Die vorliegende Neuausgabe ist eine angemessene Grundlage nicht nur für eine Aufführung der Endfassung des Werks. Durch die Auswahl der entsprechenden Sätze und Weglassung von Harfe und Kontrabass lässt sich die Erstfassung rekonstruieren. Ein Rückgriff auf die älteren Lesarten wird den Eindruck nicht wesentlich verändern, aber dies mag der Nutzer selbst entscheiden.
Jürgen Hinz