Schreiber, Ulrich

Opernführer für Fortgeschrittene

Die Geschichte des Musiktheaters. Das 20. Jahrhundert III: Ost- und Nordeuropa - Nebenstränge am Hauptweg - Interkontinentale Verbreitung

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2006
erschienen in: das Orchester 12/2006 , Seite 78

Nach einem Erscheinungszeitraum von 18 Jahren liegt nunmehr der fünfte und letzte Band von Schreibers opus magnum zur Operngeschichte vor. Auf über 3700 Seiten entrollt er darin den Werdegang jener „unmöglichen“ Kunstgattung von ihren regionalen Anfängen um 1600 bis zur „globalisierten“ Gegenwart, wobei die dreiteilige Abhandlung über die Oper des 20. Jahrhunderts wesentlich mehr Raum einnimmt, als die Ausführungen über die davor entstandenen, aber auch repertoirebestimmenden Werke. Doch für Schreibers Anliegen ist das nur konsequent: Er will bereits vertraute Themen zwar durch neue Aspekte vertiefen, aber weit wichtiger sind für ihn die Berichte über die operngeschichtliche terra incognita.
Seinem Konzept ist er immer treu geblieben: Es handelt sich um eine Werkschau, die neben den gattungs- und kulturgeschichtlichen Zusammenhängen auch die politischen Einflüsse berücksichtigt. Völlig zu Recht wurde längst Vertrautes nicht einfach aufgewärmt, sondern vielmehr weitgehend Unbekanntes vorgestellt – doch leider ging dabei manche Grundinformation verloren, die man selbst bei Repertoirestücken nicht immer parat hat und die einfach sehr nützlich wäre. Beinahe asketisch wirkt die Präsentation: Keine Bilder oder Notenbeispiele lockern den Text auf, doch dafür ist dieser so spannend geschrieben, dass man sich selbst beim zufälligen Blättern schnell festlesen wird.
Ihrer epochalen Bedeutung entsprechend werden dieses Mal der „Proteus der Weltmusik“ Igor Strawinsky und Leos? Janác?ek („Weltmusik aus der Provinz“) in umfangreichen Sonderkapiteln hervorgehoben. Zwei der regional eingegrenzten Teile stellen zunächst ein weitgehend noch geläufiges Repertoire vor: Es handelt sich einmal um die russisch-sowjetische und nachsowjetische Oper mit ihren herausragenden Persönlichkeiten (Sergej Prokofjew, Dmitri Schostakowitsch und Alfred Schnittke); der gesellschaftliche Wandel vom Zarenreich über die revolutionäre Frühphase zur stalinistischen Eiszeit bis zum Untergang des Sozialismus und die damit wiedergewonnene kulturelle Identität der einstigen Satellitenstaaten spiegelt sich eindrücklich im Opernschaffen dieses heterogenen Gebiets wider.
Das andere Mal geht es um Ost- und Südosteuropa (von Polen bis nach Griechenland), von wo wenigstens noch einige Stücke bis in die Spielpläne der internationalen Theater vorgedrungen sind. Obwohl auch jetzt noch renommierte Namen aufblitzen, betritt Schreiber dann mit Spanien und Portugal auf der einen und Skandinavien sowie den Beneluxstaaten auf der anderen Seite ein operngeschichtlich weitgehend unbekanntes Terrain mit einem extrem vielgestaltigen Werkbestand. Ein ebenso disparates Kapitel über die außereuropäische Oper folgt, in dem natürlich Nordamerika dominiert; aber einige Exkurse über Asien und Afrika vervollständigen den Blick auf eine Welt, in der die kulturelle Identität heute immer mehr verloren geht.
Georg Günthe