Fürstauer, Johanna / Anna Mika
Oper, sinnlich
Die Opernwelten des Nikolaus Harnoncourt
Die Oper ist die sinnlichste aller Kunstformen. Mit einem solchen Satz zu beginnen erscheint als wahre Herausforderung. Wie lässt sich Sinnlichkeit messen, allein in der Aufzählung beim Zusammenspiel zahlreicher Künste? Atmet dieser Satz nicht apodiktische Lüfte eines Wagner, gegen den Thomas Mann, nicht unbedingt als unsinnlich zu bezeichnen, in seinen späteren Jahren harsche Kritik übte ob der synästhetischen, multimedial überdimensionierten Vermessenheit?
Wer so fragt, wählt einen falschen Weg als Zugang zu diesem Buch. Hier will genossen sein, Oper, sinnlich eben, ohne Fragen, mit Hingabe und Interesse. Aber gibt es dazu nicht schon genug Literatur? Womöglich schon, aber nicht in der Art und Weise, dass von Beginn an eine Perspektive genommen wird, die zunächst eng wirkt, in dieser Enge dann aber einen weiten Horizont gewährt. Oper durch das Wirken Nikolaus Harnoncourts betrachtet, der gleich am Anfang des Buchs mit vier Fragen konfrontiert wird und mit klaren Statements aufwartet. Das wirkt wie unmittelbare Begegnung mit der Oper durch den Musiker; und das Buch hält, was es diesbezüglich verspricht.
Der Übergang zum historischen Ursprung der Oper Monteverdis Orfeo gelingt dann nahtlos, denn Harnoncourt hat sich bekanntlich gründlich und innovativ hinsichtlich der Aufführungspraxis mit der Renaissanceoper auseinandergesetzt. Aber wir gewinnen noch viele weitere Einblicke in die wechselhaften Aufführungsgeschichten, von Monteverdis Intentionen bis zu Hindemiths Engagement im 20. Jahrhundert, das den Zugang zum Werk maßgeblich prägte. Und so werden wir durch die Jahrhunderte getragen mit deutlichem Schwerpunkt auf Mozart (dem Zenit am Opernhimmel), bis zu Strawinskys Rake und Gershwins Porgy and Bess.
Wer über diese Wahl des Ausschnitts Oper, sinnlich nicht nachdenken muss, dem sei das Buch empfohlen als eine leichte, zugleich anregende und auch sehr bildungsreiche Lektüre, schön ergänzt durch Fotos von Proben und Aufführungen. Besonders aufschlussreich sind die vielen Zitate aus verschiedensten Perspektiven, von Komponisten über zeitgenössische Orchestermusiker und natürlich ausgiebig von Harnoncourt selbst. Gelegentlich werden dann auch ästhetische Positionen vorgeführt, wie z.B. das notwendige Verstehen der Musik als Voraussetzung für eine angemessene Inszenierung.
Aber das Nachdenkliche ist nicht die Stärke des Buchs, will es auch gar nicht sein. Ebenso mühelos lesbar wie ein Opernführer oder ein Programmheft vermag Oper, sinnlich durch bemerkenswerte Vielschichtigkeit zu überzeugen. Vor allem erweist sich das Buch hinsichtlich der Aufführungsgeschichten als äußerst spannend. Von den wegweisenden Monteverdi-Zyklen im Zürich der 1970er Jahre und der fast quälenden Auseinandersetzung mit Mozarts Idomeneo, die in Harnoncourts gleichzeitiger Dirigenten- und Regietätigkeit gipfelte, finden wir den Meister auf den Barrikaden, um für Schumanns verkannte Genoveva zu kämpfen. Eine Reise durch den Opernkosmos, im ständigen Dialog zwischen den Zeiten. Und Wagner bleibt außen vor.
Steffen A. Schmidt