Steinke, Tim
Oper nach Wagner
Formale Strategien im europäischen Musiktheater des frühen 20. Jahrhunderts
Ende des 19. sowie im beginnenden 20. Jahrhundert konnte sich kein Komponist des Musiktheaters der Auseinandersetzung mit dem Werk
Richard Wagners entziehen. Wobei ein auf unterschiedlichen dramaturgischen oder musikalischen Ebenen angesiedeltes Epigonentum, eine kreative Aneignung und Fortführung, aber ebenso die radikale Abkehr vom als schier übermächtig empfundenen Vorbild zu den heterogenen Formen dieses komplexen Prozesses gehören. Eduard Hanslick, bekanntermaßen kein Freund Wagners, fasste es so zusammen: Wer nicht wagnerisch komponiert, der ist heute so gut wie verloren, und wer es thut, ists erst recht. Der amerikanische Musikhistoriker Donald J. Grout wertete, dass die Entwicklung des musikalischen Dramas die Bedeutung habe, als sei ein neuer Planet in das Sonnensystem geschleudert worden.
Trotz vieler Literatur über die unterschiedlichen Wirkungen Wagners auf die Opernnachwelt sind Arbeiten eher selten, die die Wirkung Wagners auf ihm folgende Künstler explizit und analytisch im Detail behandeln. Tim Steinke hat in seiner bei Bärenreiter leider für die Lesbarkeit nur rudimentär überarbeiteten Doktorarbeit tiefergehend die Auswirkungen Wagners auf so unterschiedliche Komponisten wie Richard Strauss (Die Frau ohne Schatten), Giacomo Puccini (La Fanciulla del West), Karol Szymanowski (Król Roger), Paul Dukas (Ariane et Barbe-Bleue) und Franz Schreker (Die Gezeichneten) untersucht.
Anhand detailreicher Analysen kommt Steinke zu dem letztlich überzeugenden Schluss, dass die kompositorische Wirkung Wagners nicht am Ende der Spätromantik von einer Neuen Musik abgelöst wurde, sondern sich bis weit in das 20. Jahrhundert erstreckte. Von dem von Wagner selbst kritisch gesehenen und von Steinke entsprechend differenziert benutzten Begriff des Leitmotivs ausgehend zeigt der Autor, in welch unterschied-
licher Weise diese Kategorie für die fünf vorgestellten Musiktheaterwerke bedeutsam wurde. Dabei wird von Steinke aber immer wieder die Dramaturgie der jeweiligen Werke in Verbindung zu den angewandten unterschiedlichen Kompositionstechniken gesetzt.
Dass keines der fünf Musiktheaterwerke Gefahr läuft, unter die Kategorie des Epigonalen zu geraten Opern, für die dies gelten könnte, werden vom Autor keiner umfänglichen Betrachtung unterzogen , dies liegt, wie die Darstellung zeigt, einerseits an der sehr individuellen Annäherung an Wagners Kompositionstechniken. Es liegt aber auch an der dramaturgischen Legitimierung und an den kreativen Freiheiten der angesprochenen Musiker, die so z.B. Szymanowski und Schreker Elemente wie die des Tableaus aus der französischen Grand Opéra für ihr Schaffen nutzbar machen.
Steinke ist mit Oper nach Wagner nicht nur eine Veröffentlichung gelungen, die die teilweise weit verstreute Literatur zum Thema zusammenfasst, einordnet und kritisch diskutiert. Der Erkenntnisgewinn seiner Analysen der zwischen 1907 und 1926 entstandenen Werke und die daraus für eine weitergehende Vertiefung des Themas sich ergebenden Erkenntnisse sind immens.
Walter Schneckenburger