Keym, Stefan / Peter Jost (Hg.)

Olivier Messiaen

und die "französische Tradition"

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Dohr, Köln 2013
erschienen in: das Orchester 12/2013 , Seite 68

Wahrscheinlich kann man Olivier Messiaen als den Komponisten des 20. Jahrhunderts ansehen, der sich ins Bewusstsein von Rezipienten, Interpreten wie Forschern als der Exponent schlechthin der französischen Musikkultur seiner Zeit eingegraben hat. Unstrittig, als Monolith, als Sonderling, aber eben doch nicht nur irgendwie als Franzose. Dabei wird gemeinhin gar nicht hinterfragt, was den Musiker abgesehen von Geburt und Pass, von Professur und Titularstelle in Paris zum Repräsentanten französischer Musikkultur macht, und schon gar nicht, ob seine Musik in ästhetischer Hinsicht irgendetwas Französisches hat. Allein vor diesem Hintergrund stellt der Band, den Stefan Keym und Peter Jost im Dohr-Verlag veröffentlicht haben, ein absolutes Desiderat dar; versucht er doch, aus sehr unterschiedlichen Perspektiven den Mythos auf der einen Seite zu hinterfragen und auf der anderen jene Linien zu schärfen, die von den Herausgebern offenbar als gewinnbringend erachtet werden und es vielfach auch sind.
In elf Beiträgen nähern sich die Autoren mit ihren jeweils sehr unterschiedlichen Zugängen zu Messiaen, zu Frankreich und zur Musik des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen diesem Einzelgänger, der in den französischen Hochalpen Vogelstimmen sammelte und jenseits ausgetretener Pfade eine musikalische Entwicklung in Angriff nahm, die mit dem Begriff Serialismus allenfalls im Kern zu fassen war. Dass dabei ein eigentlicher Traditionsbegriff insbesondere in Bezug auf die französische Orgeltradition eine Rolle spielt, steht abermals in guter Wissenschaftstradition. Jenseits dessen ist es vor allem die Reflexion des Wirkens Olivier Messiaens in seiner Zeit, mit den dominanten Phänomenen, mit großen Kollegen und Geistesströmungen, die einen Großteil der behandelten Themen ausmacht. Kaum einer der Autoren wartet mit Überraschendem auf; es ist vor allem die Konzentration, in der der Sammelband auf sein Publikum trifft, die ihn bemerkenswert macht.
Eine entscheidende Stärke dieses Buchs ist in besonderem Maß, dass es sich nicht im analytischen Nachweis der einen oder anderen Beziehung von Komposition zu dieser oder jener Tradition erschöpft, sondern dass es ein bemerkenswertes und in diesen Dimensionen bisher unbekanntes Panorama der französischen Musikkultur des frühen 20. Jahrhunderts eröffnet. Weit über die Auseinandersetzung mit diesem einen und außergewöhnlichen Musiker hinaus bietet der Band damit zahlreiche Ansatzpunkte für sozial- und kulturhistorische Arbeiten. Darüber hinaus handelt es sich um ein lesenswertes Buch – ein Kompendium in Sachen französischer Musik im Allgemeinen, das sich in seiner ganzen Vielfalt, in seinem bemerkenswerten Facettenreichtum aber nur dem Leser erschließt, der Deutsch, Französisch und Englisch als Fachsprache auf gehobenem Niveau in der Lage ist zu genießen. Dann allerdings ist der Genuss uneingeschränkt.
Tatjana Böhme-Mehner