Abels, Norbert

Ohrentheater

Szenen einer Operngeschichte

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: axel dielmann, Frankfurt am Main 2009
erschienen in: das Orchester 03/2010 , Seite 59

Höchste Aufmerksamkeit und große Konzentrationsfähigkeit muss mitbringen, wer sich in Norbert Abels’ Gedanken über das Musiktheater, seine Wurzeln, seine Wirkung und den Ausblick in seine Zukunft hinein vertiefen will. Auf über 800 Seiten entfaltet der Autor, seit 1997 Chefdramaturg der Oper Frankfurt, seine An- und Einsichten, die sich der Praxis eines kreativen und konzipierenden Menschen verdanken – dabei aber eine alles andere als locker und leicht zu konsumierende Lektüre darstellen und gewiss nichts für Einsteiger in das Genre Oper sind.
Von Claudio Monteverdi bis Matthias Pintscher, von Henry Purcell bis Luciano Berio: Abels durchmisst mit seinen rund 70 einzelnen Essays die gesamte Geschichte der Oper, die anfangs noch unter dem Begriff “dramma per musica” firmierte. Den Essays voraus gehen komprimierte grundlegende Ausführungen über das Verhältnis von Sprache und Musik. Damit erörtert der Autor eine fundamentale Frage, auf die zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Antworten gegeben worden sind. Ebenso zentral: die Frage nach der Relevanz von Kunst in der Gesellschaft von heute. Abels spricht selbstverständlich pro domo und konstatiert das Überleben und die Zukunftsfähigkeit der Oper – trotz der bereits von Nietzsche vorgetragenen Rede vom “Scheitern der Kunst am immer stärker werdenden Gegensatz von Sinnlichkeit und Intellektualität in der modernen Kultur”. Auch warnt Abels zu Recht entschieden davor, dass sich das Musiktheater den “großen Verführungen” hingibt, zur Unterhaltungs- und Freizeitindustrie verkommt und sein Verstörungspotenzial verliert. Die Dichte dieser Gedanken macht ihre Durchdringung mitunter sehr schwierig und bisweilen entsteht ein Gefühl der Überfrachtung dieses einleitenden Textes.
Vielfältig ist dann die Sammlung der Essays – meist zu Werken des Musiktheaters, hin und wieder zu Komponisten. Abels ordnet sie chronologisch nach der Entstehungszeit der Opern an, will aber keine Geschichte des Musiktheaters schreiben. Seine Überlegungen entstanden im Rahmen praktischer Arbeit mit dem Ziel, das jeweilige Werk einer Deutung zu unterziehen. Sie sind also stets zielführend. Das ist einer der Gründe, weshalb die Beiträge so reizvoll zu lesen sind. Das macht sie weniger abstrakt und gestattet den nachvollziehenden virtuellen Blick auf Inszenierungen, die sich häufig abseits gängiger Interpretationsversuche bewegen, die zu intensivem Nachdenken anregen und neue Perspektiven hinsichtlich des „unmöglichen Kunstwerks“ namens Oper eröffnen. Sie können erfahrenen Opernbesuchern wertvolle Begleiter bei der Vor- und Nachbereitung einer erlebten Opernaufführung sein.
Christoph Schulte im Walde