Koechlin, Charles
Offrande Musicale
sur le nom de Bach op. 187 pour orchestre, Partitur
Charles Koechlin, französischer Musiker elsässisch-protestantischer Herkunft, erlebte den Beginn des Zweiten Weltkriegs als persönliche Katastrophe: Sein Schaffen kam für zwei Jahre völlig zum Erliegen. Koechlins nach dieser Zäsur 1942 konzipierte, 1946 orchestrierte Offrande Musicale sur le nom de Bach kann man als Bekenntnis gegen alle Nationalismen in der Kunst begreifen: Zum einen huldigt der Komponist mit der Titel-Anspielung auf das Musikalische Opfer und der Verwendung der Tonbuchstaben B‑A-C‑H dem Geist Bachs, doch geschieht dies mit typisch französischer Klang-Delikatesse.
Eine öffentliche Darbietung des Gesamtwerks konnte Koechlin nicht mehr erleben; erst im Jahr 1973 fand dessen Uraufführung in Frankfurt am Main durch das dortige Radio Symphonie Orchester unter Juan Pablo Izquierdo statt, dem eine zweite Präsentation beim Europäischen Musikfest 2008 der Internationalen Bachakademie folgte. Die Seltenheit von Aufführungen wundert nicht bei all den Mitteln, welche der Komponist fordert: Das groß besetzte Orchester mit 106 Instrumentalisten sieht vierfaches Holz, fünf Hörner, fünf Trompeten, vier Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagzeug und Streicher vor, dazu noch je ein Sopran‑, Alt- und Tenorsaxofon sowie Orgel, Klavier und Ondes Martenot. Entsprechende Dimensionen weist die vorliegende Orchesterpartitur auf, die sich am Schluss in 31 Systeme verzweigt.
Die Vielfalt wird jedoch meist sehr differenziert eingesetzt, und oft sind in ganz subtiler Weise Stimmen mit Streichern und Bläsern gemischt besetzt, sodass dadurch eine raffinierte Farbigkeit des Klangs entsteht. Besonders eigenwillig wirkt jedoch, dass im Zentrum der Offrande ein ganz dem Klavier vorbehaltenes Albumblatt steht, bis zu dem sich der Klang vom Anfangschoral aus ab- und von dort zum triumphalen Finale hin wieder aufbaut.
Unter den zwölf einzelnen, manchmal zusätzlich untergliederten Nummern des Werks finden sich Canons, Contrepoints, Fugen, ein Choral und eine Passacaille, aber auch einige mit Fleuri bezeichnete Abschnitte strengeren oder freieren Kontrapunkts. Das Artifizielle der Partitur ist im Notentext demonstrativ hervorgehoben, wo die einzelnen Stretto genannten Engführungen, Umkehrungen, Augmentationen und Diminutionen ausdrücklich bezeichnet sind. Eine Spezialität ist die an vorletzter Stelle stehende Fugue symétrique, die dem Dilemma zwischen realer und tonaler Beantwortung des Themas entgeht, indem sie die zweite Stimme im Tritonusabstand einsetzen lässt.
Zyklische Aufführungen der gesamten Offrande werden wohl des Aufwands wegen weiterhin Ausnahme bleiben, aber zahlreiche geringstimmig besetzte Abschnitte manchmal für Streicher bzw. Bläser einzeln bestimmt oder, wie die Passacaille für fünfstimmigen Streichersatz und Orgel könnten leicht einzeln ihren Weg in die Musizierpraxis finden und ein weiteres Mal zeigen, dass zwischen polyfoner Konstruktion und Sinnlichkeit in der Erscheinung kein Widerspruch bestehen muss.
Gerhard Dietel