von Waltershausen, Hermann Wolfgang

Oberst Chabert

Rubrik: CDs
Verlag/Label: cpo 777 619-2, 2 CDs
erschienen in: das Orchester 11/2011 , Seite 76

Opernraritäten sind in Mode. Aber längst nicht alle Ausgrabungen lohnen. Die Reanimation der Oper Oberst Chabert von Hermann Wolfgang von Waltershausen (1882-1954), die die Deutsche Oper Berlin im März 2010 herausbrachte, ist eine Sensation. Erstaunlich, dass sein Œuvre von den deutschen Bühnen nahezu vollständig verschwunden ist. Bereits in den 1930er Jahren hatte sich der Münchner Komponist ins Privatleben zurückgezogen – und wurde zu Unrecht vergessen.
Obwohl seine fünfte und letzte Oper immer noch ihrer Uraufführung harrt, hat die Deutsche Oper Berlin Waltershausens einstiges Erfolgsstück ans Licht gezogen: die Musiktragödie in drei Aufzügen frei nach Honoré de Balzac Oberst Chabert. Ein Livemitschnitt erschien nun auf CD, begleitet von einem sehr informativen Booklet, in dem Andreas K.W. Meyer daran erinnert, dass das Werk 1912 in Frankfurt am Main uraufgeführt wurde und bis 1933 bereits hundert Neuinszenierungen erlebte. Diese Oper war ein internationales Erfolgsstück, nur vergleichbar mit den Opernerfolgen eines Richard Strauss.
Die Handlung ist packend: Ein im Krieg für tot erklärter Oberst kehrt nach vielen Jahren unerwartet nach Hause zurück. Seine Frau ist inzwischen neu verheiratet. Es kommt zum vorhersehbaren Konflikt der drei Protagonisten. „Es ist Gesetz vom allerhöchsten Gott, dass Tote nicht mehr wiederkehren sollen.“ Chabert nimmt sich das Leben. Seine einstige Ehefrau erkennt zu spät ihre wahren Gefühle für ihn und folgt ihm in den Freitod.
Ein Sujet für große, gefühlvolle Musik. Waltershausen setzt allerdings nicht etwa aufs Experimentell-Neutönende, sondern hält sowohl an üppiger Spätromantik und weitgehend unangetasteter Tonalität fest als auch an den klassischen Formen der Oper wie Introduktion, Arie und Quintett. Er zeichnet kraftvolle und differenzierte Charaktere, die den Solisten viel Gelegenheit zu gesanglicher wie darstellerischer Profilierung geben.
Die drei Hauptpartien sind mit überzeugenden Sängerpersönlichkeiten besetzt: Manuela Uhl singt eine herzzerreißende Rosine. Sie verfügt über einen durchschlagenden, höhensicheren Sopran, der allerdings zur Schärfe neigt. In ihrer Sterbeszene beweist sie aber eindrucksvoll, dass sie sehr wohl auch zu Pianissimi und schwebend gehauchten Passagen fähig ist. Der kraftvolle, helltimbrierte Tenor Raymond Very leiht ihrem Ehemann Ferraud seine einnehmende Stimme, intelligent geführt in den lyrischen wie in den heldenhaften Passagen. Den Oberst Chabert singt Bo Skovhus: keine wirklich schöne Stimme, aber genau die richtige für diese Partie. Ein Sängerdarsteller, der sich präziser Textbehandlung und psychologisch mitreißender Gestaltung im Sängerischen wie Darstellerischen befleißigt.
Seine Interpretation eines seelischen Verfalls ist so bewegend wie das leidenschaftliche Dirigat von Jacques Lacombe. Er animiert das Orchester der Deutschen Oper Berlin zu einer großartigen Aufführung. Oberst Chabert könnte nach den Erfahrungen dieser Aufführung ein Repertoirestück sein. Das Werk hat dankbare, wirkungsvolle Gesangspartien, eine ergreifende Handlung, ein anspruchsvolles Libretto, eine publikumsfreundliche Länge und eine anspringende, suggestive, aufwühlende Musik.
Dieter David Scholz