Reger, Max

O Tod, wie bitter bist du

Reger vocal I: Acht geistliche Gesänge op. 138 / Drei Motetten op. 110

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Carus 83.154
erschienen in: das Orchester 05/2005 , Seite 82

Dass die Komposition von Kirchenmusik im weitesten Sinne (also: liturgischer, zumindest auf einem Cantus firmus basierender Orgelmusik oder Chormusik nach biblischen bzw. geistlichen Texten) nicht zwangsläufig eine Frage der Konfession oder Profession sein muss, das haben zahlreiche Meister des 19. und 20. Jahrhunderts hinreichend bewiesen. Gleichwohl ist in diesen Fällen der Rückbezug auf ältere Traditionen (vor allem auf Palestrina und Bach) an allen Ecken und Enden zu spüren. Während aber im 19. Jahrhundert der katholische Cäcilianismus sich auf das 16. Jahrhundert und einen streng regulierten Satz berief, bildete Bachs Schaffen für Komponisten wie Mendelssohn, Brahms und Reger (um nur die geläufigsten Namen zu nennen) einen Ausgangspunkt, um in der jeweiligen zeitgenössischen musikalischen Sprache Werke eigenen Formats zu schaffen, die wiederum selbst Teil der dichten Traditionskette wurden. Dass dabei aber nicht nur Harmonik und Satztechnik immer komplexer wurden (und damit auch die sängerischen Anforderungen stiegen), sondern auch der Ausdruck gesteigert wurde, das zeigen nicht zuletzt die zwischen 1909 und 1912 entstandenen drei Motetten op. 110 von Max Reger – umfangreiche Meisterwerke höchster kompositorischer Qualität, die heute freilich kaum mehr auf dem Programm eines Kirchenchors erscheinen (allein die doppelte Besetzung des Tenors setzt erhebliche Grenzen).
Umso bemerkenswerter ist die Neueinspielung der Motetten durch den NDR Chor Hamburg unter seinem scheidenden Chordirektor Hans-Christoph Rademann. Kurz gesagt: Es handelt sich um eine interpretatorische Glanztat, die nicht nur die Leistungs-fähigkeit eines im höchsten Maße kultivierten Klangkörpers dokumentiert, sondern weit darüber hinaus die Notwendigkeit öffentlich-rechtlicher Spitzenensembles belegt. Die beeindruckende Tiefenschärfe der Intonation macht all die von Reger gesetzten chromatischen Hürden vergessen und lässt einen unmittelbar zum musikalischen Kern der Werke vordringen. Rasch wird dabei klar, dass der mitunter beträchtliche satztechnische Aufwand nicht kompositorischer Selbstzweck ist, sondern dieser auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganz im Dienst des Wortes und des Ausdrucks steht.
Als kaum weniger anspruchsvoll, technisch jedoch weitaus leichter realisierbar erweisen sich die eher homofon angelegten und knapper gefassten acht geistlichen Gesänge op. 138. Die ganze Bandbreite von Regers Schaffen für gemischten Chor zeigt sich indes erst mit Blick auf die zweite Folge der Reihe „Reger vocal“ mit geistlichen Volksliedern und Gesängen – eine Reihe, die hoffentlich bald fortgesetzt wird.
Michael Kube