Bellini, Vincenzo

Norma

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Decca 478 3517, 2 CDs
erschienen in: das Orchester 12/2013 , Seite 76

Keine andere Primadonna der Gegenwart beherrscht die Kunst des Kommerzes ebenso brillant wie jene der Koloratur. Cecilia Bartoli, 46-jährige Römerin, ist ein Naturtalent auf beiden Gebieten. Gesegnet mit einer stupenden vokalen Agilità, beschränkt jedoch durch ein nur mäßig großes Stimmvolumen, ist die Italienerin schon früh in ihrer Karriere einen ganz eigenen Weg gegangen. Der führte sie zu Solokonzerten auf die Opern- und Konzertbühnen der Welt und regelmäßig ins Aufnahmestudio zur Einspielung des neuen Konzertprogramms auf CD. Dass der Tonträger dabei stets vor der ersten Live-Darbietung herauskommt, ist ein Marketingverfahren, das la Bartoli dem Popgeschäft abgeschaut und als Erste auf den Klassikmarkt übertragen hat.
Ambitioniert müssen ihre Programme stets sein, denn die Sängerin versteht sich auch als Entdeckerin und Detektivin. Pressefotos zeigen sie nachdenklich gebeugt über altem Notenmaterial oder angeregt diskutierend mit Musikwissenschaftlern. Bartoli kann nicht nur singen, sie stellt auch kritische Fragen und genau das ins Zentrum ihres sorgsam gepflegten Images. So wie im aktuellen Fall bei Bellinis Norma, deren Aufführungspraxis im 20. Jahrhundert sie immer weiter von den Intentionen des Komponisten sich entfernt habend sieht. Des Meisters Autograf wurde herangezogen und den Besetzungen der Uraufführung sowie folgender Jahre nachgegangen, um zu einem bereinigten Blick auf das Werk zu gelangen. Das Ergebnis, welch Wunder, ist eines der Diva wie auf den Leib geschriebenes, konkret die Erkenntnis, dass die Titelsängerin der Uraufführung doch eigentlich ein Mezzo und keineswegs ein dramatischer Sopran wie etwa Maria Callas war. Stimmt, die erste Norma Giuditta Pasta ebenso wie die andere große Rollenvertreterin, Maria Malibran, waren nach heutigem Verständnis eher Mezzos. Doch waren die Stimmfächer damals noch keineswegs so festgelegt wie heute und die Sopranistin Giulia Grisi, mit der man in der Uraufführung die Partie der Adalgisa (heute in der Regel von einem Mezzo gesungen) besetzte, sang später auch die Norma.
Doch was ist nun das Ergebnis? Ein individuelles, hörens-, oftmals gar staunenswertes Rollenporträt, doch keineswegs authentischer, vollendeter oder überzeugender als die ihrer prominenten Vorgängerinnen. Im Gegenteil vermag Bartoli es nicht, all jene ganz unterschiedlichen Charaktere zu umfassen, die die Figur in sich trägt. Auch die angestrebte Entheroisierung der Partie zugunsten einer stärkeren Vermenschlichung gelingt nur an manchen Stellen überzeugender als bei den berühmten Rollenkolleginnen, die das auf ihre Art und Weise ebenfalls vermochten. Im Gegenspiel mit der stimmlich unterkühlten Sopranistin Sumi Jo als Adalgisa haftet Bartolis Mezzo-Norma phasenweise fast etwas Ältliches an. Die tiefere Stimmlage produziert nicht automatisch den gewünschten Ausdruck der größeren Lebenserfahrung Normas im Gegensatz zu jener der jüngeren Adalgisa. Auch Michele Pertusi als tiefenschwacher Oroveso trübt den Höreindruck, der vor allem durch John Osborn als Pollione, mehr aber noch durch das exzellente, historisch informiert spielende Zürcher Orchestra La Scintilla unter Giovanni Antonini positiv geprägt wird.
Ulrich Ruhnke