Ayres, Richard

No. 38

Three Small Pieces for String Quartet (2003), Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2011
erschienen in: das Orchester 01/2012 , Seite 64

Der Werktitel „Three Small Pieces for String Quartet“ No. 38, den Richard Ayres seinem Streichquartett von 2003 gab, erinnert an denjenigen, mit dem Strawinsky fast genau 90 Jahre zuvor seine Trois pièces pour quatuor à cordes versah. Und tatsächlich besitzt das Quartett von Ayres auch einen ähnlichen Charakter. Wie Strawinsky färbt Ayres die Musik teilweise folkloristisch ein. Doch ist das, anders als bei Strawinsky, etwa im zweiten Satz ein „synthetischer“, gewissermaßen frei erfundener Folklorismus. Dieser Satz läuft im 11/16-Takt rhythmisch in ostinatohaft repetierten Notenwerten völlig gleichmäßig durch, und das Cello muss seine zumeist bordunhaft mitklingende tiefste Saite eine Quinte tiefer stimmen, während in den beiden Violinen abwechselnd das Quintintervall e/h in höchster Lage zu intonieren ist. Es entsteht ein auch durch Spielanweisungen vorgeschriebener, etwas ruppiger, aufgerauter, ungepflegter Ensembleklang, der durchaus an denjenigen von Volksmusikensembles vom Balkan, wie immer auch stilisiert, erinnert.
Den ersten Satz „Tanase’s Eyes“ versteht Ayres als eine Hommage an die rumänische Sängerin Maria Ta?nase. Er nennt sie eine rumänische Edith Piaf und berichtet, dass eine Fotografie der Sängerin mit ihren ungemein sprechenden Augen ihn zu diesem Satz inspiriert habe. Ihren Gesang empfindet er in der 1. Violine zu einer mandolinenhaften Begleitung in den anderen Instrumenten gewissermaßen nach. Im dritten Stück schließlich porträtiert Ayres eine gewisse Gräfin Eva von Spendu, wie sie durch einen Wald reitet und viermal innehält, um die Schönheit der Natur in sich aufzunehmen. Das komponiert er mit einer gewissen Drastik, und selbstverständlich ist auch der Rhythmus eines galoppierenden Pferdes zu vernehmen.
Richard Ayres, 1965 in Cornwall geboren, Schüler u.a. von Morton Feldman sowie Louis Andriessen und seit 2004 Kompositionslehrer am Royal Conservatoire in Den Haag, ist einer der wenigen zeitgenössischen Komponisten mit ausgeprägtem Sinn für Humor, welcher die entschieden moderne kompositionstechnische Faktur seiner Musik durchaus unterhaltend wirken lässt. Doch überbordet dieser Humor niemals, um ins trivial-kalauerhafte umzuschlagen. Dazu ist diese Musik viel zu sorgfältig und anspruchsvoll komponiert und durchgestaltet. Zudem bietet sie vertrackte spieltechnische Probleme, die wie selbstverständlich überwunden werden müssen, damit diese Musik ihren durchaus auch listigen Hintersinn entfalten kann. Das Werk ist demnach eine wirklich originelle Bereicherung des in der Regel allzu akademisch-ernsthaft belasteten Repertoires, das den Ensembles nachdrücklich zu empfehlen ist: sowohl zur auffrischenden Überwindung von spieltechnischer Routine als auch zur entkrampfenden Auflockerung von Programmgestaltungen – zumal es hier auch in allerbester, gewohnter Schott-Qualität vorgelegt wurde mit stets sinnvoll gewählten Wendestellen in den Stimmen.
Giselher Schubert