Say, Fazil

Nirvana Burning

Konzertstück für Klavier und Orchester op. 30, Klavierauszug vom Komponisten

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2013
erschienen in: das Orchester 02/2014 , Seite 70

Pianisten, die zugleich komponieren: an diese vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert reichende Tradition knüpft der türkische Musiker Fazil Say immer wieder an, wenn er Werke vorwiegend für den eigenen Gebrauch schreibt, in denen er europäische und vorderasiatische Musiküberlieferungen fruchtbar miteinander verbindet. Das gilt auch im Falle seines für Klavier und Orchester geschaffenen, pianistisch anspruchsvollen Konzertstücks Nirvana Burning, das er im Auftrag der Salzburger Festspiele komponierte und dort am 25. Juli 2010 zusammen mit dem Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra unter Leitung von Sascha Goetzel uraufführte. Die vorliegende Druckveröffentlichung ist ein Klavierauszug des Konzertstücks aus Says eigener Hand, bei dem der Orchesterpart einem zweiten Klavier überantwortet ist, sodass wohl vieles vom Kolorit des mit einem umfangreichen Bläser- und Schlagzeugapparat aufwartenden Originals, nichts aber von dessen musikalischen Strukturen verloren geht. Ob dieser Klavierauszug nur Studienzwecken dienen soll oder eine aufführbare Version eigenen Rechts darstellt, wird nicht explizit angesprochen.
Das zweiteilig angelegte Stück stellt in einem programmatischen Doppelbild einer Paradies-Schilderung (Nirvana) eine Höllenvision (Burning) zur Seite. Der Klaviersolist darf sich anfangs mit hellen, glöckchenartigen Passagen rein auf den weißen Tasten des Klaviers ergehen, in einer gleißenden und schillernden Musik im mixolydischen Modus, den Fazil Say als „alte anatolische Tonart“ aufgreift und „fröhlicher“ als die Dur-Tonleiter findet. Nach metrisch freiem Beginn verfestigt sich die Komposition zu einem luftig schwebenden „Andantino meditativo“, in dem es von dolce- oder dolce espressivo-Anweisungen wimmelt und, typisch für Say, die Rechte gelegentlich im Innenraum des Flügels mit Abdämpfen der Saiten beschäftigt ist.
Dem Frieden ist jedoch auf Dauer nicht zu trauen. Dumpfe Secco-Schläge im Begleitpart kündigen den Übergang zu Burning an, das zwar den durchgehenden 7/8-Takt von Nirvana fortsetzt, aber gegenüber dessen schwebendem Gestus nun scharfe rhythmische Akzente setzt. Als traditionellen Topos verwendet Fazil Say hier den „Diabolus in musica“: das Tritonus-Intervall tritt immer wieder markant in den Vordergrund oder ist latent in den musikalischen Konturen verborgen. Mit wilden Oktavgängen, gehämmerten Tonrepetitionen und einer bis ins dreifache Forte gesteigerten Dynamik beschwört Say das titelgebende Feuer als „dunkle Gefahr, die wir selbst erschaffen haben“ und lässt die vorwärtsstürmende Komposition, die kurze Erinnerungen an den Nirvana-Teil in ihren Sog hineinzieht, mit einem sechzehnmaligen, immer dringlicher sich von unten aufbauenden chromatischen Cluster enden.
Gerhard Dietel