Hiller, Wilfried
Niobe
Trio für Violine, Violoncello und Klavier, Partitur und Stimmen
Unam minimamque relinque! Die Einzige lass mir, die Jüngste!, fleht Niobe in Ovids Metamorphosen. Doch vergebens: Die Zwillinge Apollo und Artemis vollenden ihre furchtbare Rache, ein weiterer Pfeilschuss tötet auch das letzte der vierzehn Kinder Niobes vor ihren Augen. Grausamer hätte die Bestrafung der hochmütigen Mutter, die zuvor Leto herausgefordert hatte, nicht sein können. Im Schmerz erstarrt Niobe zu Stein, nur ihre Tränen rinnen unablässig am Marmor herab. Dieser Stoff der griechischen Mythologie, den Ovid in seinen Metamorphosen erzählt und der auch in einem Dramenfragment von Aischylos überliefert ist, hat den Münchner Komponisten Wilfried Hiller seit seiner Studienzeit immer wieder beschäftigt. Die Liebe zur griechischen Antike und zum Land der Hellenen führte 1975 zur Komposition seiner Fernsehoper Niobe. Zwanzig Jahre später hat er musikalisches Material der Oper erneut aufgenommen und als Trio für Violine, Violoncello und Klavier bearbeitet.
In diesem seiner Frau Elisabeth Woska und dem Munch-Trio gewidmeten Kammermusikwerk orientiert sich Hiller an ausgewählten Versen Ovids und Aischylos, die an mehreren Stellen in den Noten mitgeteilt werden. Die Musik setzt mit dem Klagegesang der Niobe ein, angestimmt in einer Kantilene im Violoncello Material, aus dem sich der erste Teil des Stücks entwickelt. Mit der Textzeile Ein Gott allein, der Tod aus dem Fragment des Aischylos entwirft Hiller das zweite zentrale Motiv, das zunächst auf dem Ton a in einer individuellen rhythmischen Gestalt exponiert wird. Auf dem Höhepunkt der Steigerung wechselt der musikalische Stil; die intensive Schlichtheit der barocken Tonsprache eines zitierten Abschnitts aus der Oper Niobe von Agostino Steffani (1654-1728) leitet die Metamorphose der Niobe ihre Versteinerung ein. Der Prozess der Versteinerung wird mit insistierenden Tonrepetitionen in den höchsten Registern musikalisch weiter ausgestaltet und mündet in einen instrumentalen Gesang des ebenfalls getöteten Ehemanns Amphion: der Traum vom verlorenen Paradies.
Der Schott-Verlag hat Hillers zehnminütiges, ebenso dramatisches wie bewegendes Klaviertrio Niobe in einer tadellosen Edition veröffentlicht. Eine ausführliche Einleitung informiert über den mythologischen Hintergrund des Sujets und Hillers persönliche Neigung zur griechischen Mythologie. Alle Stimmen bestechen durch ein angenehmes Druckbild; das Zusammenspiel wird durch die großzügigen Stichnoten in den Streicherstimmen sehr erleichtert.
Felix Wörner