Nachkriegsklänge. Schweiz
Liebermann, Strauss, Honegger
Gut, dass es neben den Major Labels und einer zunehmenden Netrebkoisierung des CD-Markts auch Initiativen wie diese gibt: Der junge Schweizer Dirigent Roman Brogli-Sacher, seit 2001 GMD der Stadt Lübeck, gewinnt das Label musicaphon nicht eben als Branchenriese, dafür umso mehr für aussagekräftige Programmatik bekannt als Vertragspartner zur Produktion einiger Live-Mitschnitte des Lübecker Philharmonischen Orchesters. Nicht um Standardrepertoire geht es hierbei, vielmehr um selten Gespieltes, etwa die Sinfonien Arthur Honeggers, und um Kontexte zwischen einzelnen Werken, die sich durch programmatische Klammern sinnfällig erschließen. Ganz nebenbei erfahren wir auf solchen Wegen Erfreuliches über den hohen Qualitätsstandard vermeintlicher Provinzorchester, hier: der Lübschen Philharmoniker, die sich im vorliegenden Mitschnitt aus dem Jahr 2007 als glänzend aufgelegtes Ensemble präsentieren. Scharfe Attacken und synkopierende Rhythmen werden ebenso genussvoll ausgekostet wie romantisches Cantabile womit die gegensätzlichen Pole des Programms bereits angedeutet sind.
Rolf Liebermanns Furioso, 1945 in der Schweiz komponiert und nach seiner Dortmunder Uraufführung auch ein Zugstück der deutschen Nachkriegs-Konzertlandschaft, vermag als Bigband-Evokation im Gewand eines klassischen Sinfonieorchesters auch heute noch mitzureißen, wenngleich formale Anlage und motorischer Verlauf nicht allzu viel kompositorisches Raffinement verraten. Kantig, mitunter heftig dissonierend, im geistigen Ambitus jedoch weiter hinausragend und zudem von berückender melodischer Kraft zeigt sich Honeggers 1946 in Zürich uraufgeführte Symphonie Liturgique. Dem Lübecker Orchester und seinem Dirigenten gelingt eine beeindruckend intensive Darstellung des ungebührlich vernachlässigten Werks. Ein größerer Kontrast zur stählernen Kraft Liebermanns und Honeggers als Strauss Metamorphosen lässt sich indes kaum denken. Die philharmonischen Streicher erfüllen diesen 1946 durch Paul Sachers Collegium Musicum uraufgeführten melancholischen Schwanengesang mit schönstem Wohlklang, gelegentliche kleine Durchhänger in der Spannungskurve sowie minimale Intonationsausrutscher trüben nicht den positiven Gesamteindruck.
Überstrapazieren sollte man die im Titel angedeutete gedankliche Klammer nicht, handelt es sich doch um ein Zufallstreffen dreier sehr gegensätzlicher Komponisten: eines jungen Deutschschweizers jüdischer Herkunft (und späteren dynamischen Opernintendanten!), eines Ex-Giganten, der im Schweizer Refugium zwölf Hakenkreuz-Jahre zu verdrängen suchte und zugleich der Entnazifizierung entging sowie eines primär in Paris beheimateten Komponisten, dessen Musik gleichermaßen auf deutschen wie französischen Wurzeln basierte. Doch vermutlich ist für die kulturelle Nachkriegssituation der Schweiz nichts charakteristischer als eben dieses Patchwork.
Gerhard Anders