Borchard, Beatrix / Heidy Zimmermann (Hg.)
Musikwelten Lebenswelten
Jüdische Identitätssuche in der deutschen Musikkultur
Anlässlich des 100. Todestags von Joseph Joachim fand 2007 in der Hamburger Musikhochschule eine Tagung zur Rolle der Musik im jüdischen Akkulturationsprozess seit 1850 statt. Der vorliegende Band fasst in 23 Aufsätzen führender Musikwissenschaftler die Beiträge dieses Kongresses zusammen. Bezugsfigur ist in vielen Texten immer wieder Joseph Joachim, der als Geiger, Komponist, Dirigent, Pädagoge und jahrzehntelanger Leiter der Berliner Musikhochschule für das Paradigma einer spezifisch deutschen Instrumentalmusik stand, die im Laufe des 19. Jahrhunderts oft Züge einer Zukunftsreligion annahm.
Trotz seiner hohen gesellschaftlichen Stellung in Deutschland blieb der Jude Joachim von Attacken aus dem Umkreis Richard Wagners und Hans Bülows nicht verschont, wie Hans-Joachim Hinrichsen in seinem Text über das antisemitische Rezeptionsparadox darlegt. Mit brillanter Sorgfalt analysiert Reinhard Kapp im Vergleich das Thema von Joachims Variationen op. 10 und Robert Schumanns Nordisches Lied aus op. 68.
Joachims Einsatz für Bach, dessen Violin-Chaconne er häufig darbot, und Beethoven, dessen 9. Symphonie er als Dirigent aufführte, wird in Aufsätzen von Michael Heinemann bzw. Beate Angelika Kraus gewürdigt. Gerhard J. Winkler befasst sich mit Joachims Herkunft aus dem heute österreichisch-burgenländischen Westungarn; er erinnert zugleich an den großen Kadenzen-Komponisten Joachim, dessen Kadenzen zu Violinkonzerten von Mozart, Beethoven und Brahms bis heute als unübertroffen gelten.
Zu der schwierigen Begriffsbestimmung jüdische Musik Musik jüdischer Komponisten, Musik über alttestamentarische Stoffe, Musik mit folkloristischem oder synagogalem Hintergrund? liefern Barbara Hahn und Reinhard Flender wertvolle Aufschlüsse. Beatrix Borchard beleuchtet die identitätsstiftende Rolle der Musik im deutschen Judentum am Beispiel der Laufbahnen von Joachim, Felix Mendelssohn Bartholdy, dem Berliner Konservatoriumsgründer Julius Stern (1820-1883) und dem Berliner Kantor Louis Lewandowski (1821-1894). Jan Brachmanns Text über die Bibel als Grundgesetz aller Deutschen Johannes Brahms ambivalenter Liberalismus behandelt die bibeltreue Gläubigkeit von Brahms, die ihn gegen antisemitische Versuchungen à la Wagner feite. Bemerkenswert ist auch Daniel Jüttes Untersuchung über die schon seit der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts nachzuweisende Tätigkeit jüdischer Instrumentalisten und Sänger in Hoforchestern und auf Opernbühnen Mitteleuropas.
Andere Aufsätze weiten den Blick bis in die Mitte des 20. Jahrhun-derts hinein, wenn es etwa um die Geiger Arnold und Alma Rosé, den Jüdi-schen Kulturbund während des Nazi-Regimes und auch um die Musik im NS-Lagersystem (insbesondere Theresienstadt) und bei den so genannten Displaced Persons Camps kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geht.
Annette Webers kleine Ikonografie Jüdische Musiker im Spiegel der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts rundet dieses faszinierende Spektrum deutsch-jüdischer Musikgeschichte zwischen Romantik und Moderne auf optisch erfreuliche Weise ab.
Rainer Klaas