Motte-Haber, Helga de la / Oliver Schwab-Felisch (Hg.)

Musiktheorie

Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft, Band 2

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Laaber, Laaber 2004
erschienen in: das Orchester 07-08/2005 , Seite 78

Dieses Handbuch ist ein sehr gehaltvolles Kompendium der verschiedenen Theorien, die im Verlauf der europäischen Geschichte zur Begründung musikalischer Form und Struktur entwickelt wurden. Es umfasst den Zeitraum von den Ursprüngen der abendländischen Musiktheorie in der griechischen Antike bis zu neuen Ordnungen im 20. Jahrhundert. Die einzelnen Kapitel wurden von 19 Autoren verfasst, die allesamt durch zahlreiche Publikationen in den jeweiligen Fachgebieten ausgewiesene Wissenschaftler sind und an deutschsprachigen Universitäten und Musikhochschulen lehren. Die drucktechnische Gestaltung des Textes, bei dem Quellenangaben und Kommentare nicht wie üblich als Fußnoten unter den Haupttext, sondern als Spalte neben diesen gesetzt sind, wirkt sich beim Lesen sehr angenehm aus.
Naturgemäß unterscheiden sich die einzelnen Beiträge im Darstellungsstil und hinsichtlich der inhaltlichen Vollständigkeit. Beispielsweise werden die pythagoreische Theorie sowie ihre Umbildung in das mittelalterliche System der Kirchentöne historisch detailreich und zugleich sprachlich klar vermittelt. (Dass beim Druck arithmetischer Formeln die mathematische Orthografie vernachlässigt [S. 34] oder das Pascal’sche Dreieck sinnwidrig verzerrt wiedergegeben wird [S. 77], sind kleine Schönheitsfehler.) Ebenfalls sehr anschaulich ist die Darstellung der „musikalischen Logik“ Riemanns oder die Erklärung der in Europa wenig bekannten Schenker’schen Lehre, während z.B. das Kapitel „Gedanken zur praktischen Harmonielehre im 19. Jahrhundert“ eine Fülle von Fakten bietet und für den Fachmann interessante gedankliche Querverbindungen aufzeigt, für einen Studenten jedoch, der im Handbuch „nachschlagen“ möchte, eher verwirrend ist.
Im Kapitel „Formalisierte Modelle von Tonhöhenrelationen“ vermisst man Roger Shepards Structural Representations of Musical Pitch. Hier wird neben Allen Fortes für die atonale Komposition bedeutsamem System der „pitch class sets“ Guerino Mazzolas symmetrieorientierte Geometrie der Töne ausführlich dargestellt, deren Anwendung auf historische Beispiele allerdings nicht überprüft wird. Der Abschnitt über die Verwendung von Mikrointervallen in der Musik des 20. Jahrhunderts ist sehr knapp geraten. Vielleicht hätte Martin Vogels septimales System verdient, erwähnt zu werden. Eine Kleinigkeit: Das 31-stufige Tonsystem wurde von Christian Huygens (1629-1695) nicht 1940 entwickelt, sondern bereits 1691 von ihm beschrieben und erst 1940 in Huygens’ Œuvres Complètes publiziert. Adriaan Daniel Fokker hat es damals mit einem speziellen Notationsverfahren für die kompositorische Praxis eingerichtet.
Die wenigen kritischen Anmerkungen wiegen gering im Verhältnis zum Gewicht dieser Publikation, die sich eines festen Platzes innerhalb der Literatur zur Systematischen Musikwissenschaft sicher sein kann.
Horst-Peter Hesse