Rauhe, Hermann
Musikstadt Hamburg
Eine klingende Chronik
Am Anfang waren Vorlesungsnotizen. Dann kam die Idee eines audiovisuellen Prunkbandes. Da der emeritierte Hamburger Hochschulpräsident Hermann Rauhe nicht nur ein Meister populärer Musikvermittlung, sondern auch ein visionärer Kulturnetzwerker ist, gelang es ihm, bei Stiftungen, Hamburger Sparkasse und Handelskammer so einträglich anschaffen zu gehen, dass edelste Bild- und üppigste Tonausstattung (sieben in den Buchdeckeln versenkte CDs) möglich wurden. Während sich die Ideenstifter neben Rauhe auch der Schallplattenproduzent Cord Garben, Präsident der Hamburger Brahms-Gesellschaft vornehmlich um Finanzierung, Planung und Ausstattung kümmerten, mühte sich ein Vertrauensmann Rauhes, Peter Rümenapp, aus dessen Aufzeichnungen und jüngerer Literatur zur Musikgeschichte Hamburgs einen 400 Jahre umspannenden Aufriss zu gewinnen.
Eine Herkulesaufgabe, wenn man anfängt, sich dem ehrwürdigen Panorama der Musikstadt mit der Lupe zu nähern und ihren sozial- und geistesgeschichtlichen Nährboden mit zu bedenken. Dass die kleingedruckte Mitarbeit bald zur Hauptarbeit wurde, darf vermutet werden. Auch wenn die Chronik anders als Joachim Mischkes Report Hamburg Musik! (das Orchester 7-8/08, S. 60) Star Club und Onkel Pö außer Betracht lässt.
Bleibt die Urheberschaft der Textteile auch im Dunklen das zukunftstrunkene Schlusskapitel trägt die Handschrift des chronisch begeisterten Unruhestifters. Wissenschaftlich ist das Ausstattungsstück nur bedingt. Quellennachweise fehlen gänzlich. Die Kapitelfolge im Jahrhunderttakt widerspricht eigentlich dem inneren Rhythmus der Musikgeschichte. Dass Hamburg vom frühen 17. bis ins späte 18. Jahrhundert seine musikkulturelle Hoch-Zeit erlebte, allenfalls mit den Blüteperioden im 20. Jahrhundert vergleichbar, erschließt sich dem Leser so nicht unmittelbar.
Erwähnenswert wäre beispielsweise, dass Hieronymus Praetorius schon 1607 zur Einweihung der Gertrudenkapelle die venezianische Mehrchörigkeit einführte; Arp Schnitger bedeutende Vorläufer (die Orgelbauerfamilie Scherer) und einen tüchtigen Nachfahr hatte (Rudolf von Beckerath). Auch scheinen mir Funktion und amtsbedingtes Schaffen der Kirchenorganisten (wie Weckmann, Bernhard, Reincken) und Stadtkantoren (wie Sartorius, Selle, Telemann, C.P.E. Bach) nicht deutlich genug unterschieden. Matthias Weckmann war 1642 bis 1647 Hoforganist in Nykøbing (nicht bei Kopenhagen), wo Schütz 1642 bis 1644 als Kapellmeister wirkte. Dietrich Buxtehude als die Instanz des Orgelspiels und der Kirchenmusik schlechthin zu etikettieren, scheint ebenso grobkörnig wie die Annahme, Händel und Mattheson hätten es 1703 auf dessen Amtsnachfolge an St. Marien abgesehen gehabt. Da dürfte Dorothea Schröder der Wahrheit näherkommen, die deren Lübeck-Reise in ihrem Händel-Büchlein (das Orchester 2/09, S. 60) als Studienfahrt zu einem Grandseigneur der norddeutschen Musik bewertet. Erfreulich hingegen die Würdigung vernachlässigter Hamburger Tonschöpfer wie Felix Woyrsch, Walter Niemann, Berthold Goldschmidt, Felicitas Kukuck oder Babette Koblenz.
Lutz Lesle